Monat: Januar 2024

Blogbeiträge zur Reihe „Baustellen der Demokratie“ 2023

Artikel Anny-Klawa-Morf-Stiftung
Nadine Honegger

Hier findet ihr eine Zusammenfassung aller Veranstaltungen unserer Reihe "Baustellen der Demokratie" in den Kantonen Basel-Stadt und Baselland im Jahr 2023.

Populismusmehrheiten in der Demokratie
Renaissance des Sozialliberalismus?
Faktenleugner*innen und die Demokratie
Globalisierte Wirtschaft – globalisierte Demokratie
Medien unter Druck?
Enttäuschte Bürger*innen und die Reaktion der institutionalisierten Demokratie – Erfahrungen aus drei Ländern.
Politik jenseits von links und rechts?
Parteien, Bewegungen und Demokratie in Frankreich seit 2017

Populismusmehrheiten in der Demokratie

23. März 2023 | 18.30 Uhr | kHaus, Turmzimmer I Basel

In dieser Diskussion debattierten die österreichische Rechtsextremismus-Forscherin und Publizistin Natascha Strobl und Damir Skenderovic, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg, über Populismus und die Auswirkungen dessen konfrontativen Politik und Rhetorik auf die Demokratie. Moderiert wurde das Gespräch von Kaspar Surber (WOZ).

Der Historiker Damir Skenderovic vertrat einerseits die Ansicht, dass der Vormarsch der Rechtspopulisten sich in verschiedenen europäischen Ländern seit den 1968er Jahren parallel aufgebaut hätte, z.B. mit der Nouvelle Droite in Frankreich, der Ausserparlamentarischen Opposition (APO) in Deutschland, James Schwarzenbach und der Schweizerischen Volkspartei (SVP) in der Schweiz. Andererseits zeigte Skenderovic auf, dass ein Vergessen des zweiten Weltkrieges und der Grauen des Holocaust ein Erstarken der rechten Bewegungen möglich gemacht haben. Natascha Strobl schuf als Publizistin den Begriff des „radikalen Konservatismus“ für die Beschreibung verschiedener Bewegungen im rechten politischen Lager. Als Beispiele dafür nannte sie den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Diese radikalen Konservativen seien nicht in dem Sinne konservativ, als dass sie bewahren wollen, sondern sich durch Provokationen von den anderen konservativen Parteien abheben wollen. Dabei ginge es hauptsächlich um Aufmerksamkeit um jeden Preis, denn auch die negativen Schlagzeilen verleihen den Politiker*innen Popularität. Den Grund für die Wahl von Donald Trump sieht sie z.B. in der prekären Lage der Demokratie, da er vor allem auch gewählt wurde, weil er schlicht anders als die bisherigen Politiker*innen war.

Handlungsmöglichkeiten
Natascha Strobl forderte, dass die Tabubrüche, die die Rechtspopulist*innen initiieren und die damit verbundene Aufmerksamkeitsspirale durch Journalist*innen reflektiert und gebrochen werden sollten. Durch die Tabubrüche kämen die Linken und liberalen Parteien in eine Rolle, in der sie die Demokratie und die demokratischen Regeln dauernd verteidigen müssten. Dies sei sehr wichtig, aber es müsse auch ein neuer Weg gefunden werden, da die bisherige Demokratie auch nicht für alle Gruppen gleich gut funktionierte und krisengeschüttelt sei.
Damir Skenderovic thematisierte, dass in Deutschland die Diskussion geführt wird, wie mit den Rechtspopulist*innen umgegangen werden kann und eine klare Abgrenzung ein Thema ist. In der Schweiz hingegen ist die SVP nun die wählerstärkste Partei und Teil der Regierung, da die anderen Parteien auch in Regierungskoalitionen Kompromisse machen. Er forderte einen reflektierten Umgang mit den Rechtspopulist*innen.

Renaissance des Sozialliberalismus?

26. April 2023 |19.00 | Cheesmeyer |Sissach

Nach einem Inputreferat von Politologe Urs Bieri (Co-Geschäftsführer gfs.bern) diskutierten alt Nationalrätin Anita Fetz (alt Ständerätin SP) und René Rhinow (als Ständerat FDP) über Möglichkeiten und Unwägbarkeiten einer sozialliberalen Kooperation. Moderiert wurde das Podium von Philipp Loser (Tagesanzeiger).

In seinem Inputreferat ging Urs Bieri der Frage nach, was «sozialliberal» eigentlich heisst, und nahm das Publikum auf eine Reise durch die Geschichte sozialliberaler Kooperationen in der Schweiz mit. Der Sozialliberalismus, so Bieri, sei der Versuch, Freiheit und Eigenverantwortung in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft zu bewahren. In einer «Koalition der Vernunft» paktierten FDP und SP (teilweise auch mit der CVP) in den 1990er-Jahren immer wieder, um so politisch austarierte Lösungen mit sowohl sozialer als auch liberaler Prägung zu entwickeln, etwa in der Ausarbeitung der bilateralen Verträge nach dem Nein zum EWR. Allerdings verliessen beide Parteien diese für die FDP eher nach links und für die SP eher nach rechts orientierte Strategie wieder – Wahltechnisch war sie kein Erfolg.

Mit Anita Fetz und René Rhinow debattierten anschliessend zwei Personen aus den beiden Parteien, die dem Konzept durchaus etwas abgewinnen konnten. Rhinow stellte klar, dass seine Haltung stets gewesen sei, dass die FDP auch die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Schweiz ansprechen müsse. Und Anita Fetz betonte die Zusammenarbeit mit der FDP in Europafragen in der Vergangenheit.

Handlungsmöglichkeiten
Klar wurde am Podium aber auch, dass die beiden Parteien aktuell keine sozialliberale Haltung mehr vertreten würden – was beide Podiumsteilnehmende bedauerten, da sie in der verstärkten überparteilichen Zusammenarbeit Möglichkeiten für Kompromisse in grossen Fragen der Schweizer Politik sehen würden. Grosse Reformen, so der Tenor, hätten es heute in der Schweiz weniger schwer, wäre der Sozialliberalismus noch stärker.

Faktenleugner*innen und die Demokratie

23. Mai 2023 | 19.00 Uhr | Lesesaal I Kantonsbibliothek Liestal

Ausgehend von Ken Jebsens berühmtem Fall und dem preisgekrönten Podcast „Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“ fragte diese Veranstaltung nach den Zusammenhängen zwischen zunehmend umstrittenen Fakten, dem Einfluss der sozialen Medien und dem Erfolg von Verschwörungsideologien. Es diskutierten Tobias Bauckhage (Mitproduzent des Podcasts) und Marko Kovic (Publizist) mit der Moderatorin Monika Waldis (Zentrum für Demokratie Aarau).

Im sechsteiligen Podcast «Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?» ging dessen Produzent Tobias Bauckhage einerseits der Frage nach, was mit dem ehemals jungen, anarchischen Journalisten Ken Jebsen passiert ist, da er sich zu einem Verschwörungstheoretiker mit riesiger Reichweite entwickelt hatte, der Falschinformationen verbreitete und antisemitische Bemerkungen machte. Andererseits fragten sich die Produzenten wer von ihm und der Verbreitung seiner Theorien profitierte. Dabei kamen die Produzenten zum Schluss, dass Jebsen auch Teil einer russischen Desinformationskampagne gewesen ist, um westliche Gesellschaften zu destabilisieren.
Der Sozialwissenschaftler und Journalist Marko Kovic beschrieb, dass die Corona-Thematik in den Kanälen der Corona-Massnahmenkritiker*innen langsam vorbei sei, jedoch durch das Thema des Ukraine-Krieges ersetzt werde. Dabei würden Theorien darüber erzählt, dass die westlichen Medien Lügen verbreiten würden, korrupt und unterwandert seien. Es werden auch prorussische Propaganda und Verschwörungstheorien geteilt, wie z.B. des Verschwörungstheoretikers Daniele Ganser, der behauptet, die Revolution 2014 in der Ukraine sei in Tat und Wahrheit ein Putsch des Westens gewesen.

Handlungsmöglichkeiten
Tobias Bauckhage thematisierte die Verantwortung der Medienhäuser und forderte diese auf Verschwörungstheoretiker*innen nicht dauernd zu zitieren und ihnen keine Plattform zu geben. Marko Kovic erklärte weiter, dass auch das Internet und soziale Plattformen reguliert werden müssen, da es der Ort sei, wo die Theorien verbreitet werden. Ausserdem seien die Journalist*innen im Umgang mit Verschwörungstheoretiker*innen in einer neuen Situation. Es könne nicht neutral über beide Perspektiven berichtet werden, da es sich auf der einen Seite um Falschinformationen handelt und diese damit weiterverbreitet würden.

Globalisierte Wirtschaft – globalisierte Demokratie

21. Juni 2023 | 18.30 Uhr | kHaus Basel

Nach einem Inputreferat von Podium Franziska Korn (Friedrich-Ebert-Stiftung) diskutierten Seraina Patzen (Konzernverantwortung.ch) und Ximena González (Anwältin und Menschenrechtsaktivistin) über mögliche Wege die Demokratie auf globaler Ebene zu stärken. Moderation: Renato Beck (WOZ)

In dieser Veranstaltung wurde debattiert, wie sich die Macht globaler Konzerne auf nationaler und internationaler Ebene auswirkt. Wie kann die national organisierte Demokratie Staates auf international agierende Unternehmen reagieren?  Franziska Korn ist Referentin für Wirtschaft und Menschenrechte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin und leitete davor das Büro der FES in Bangladesch. In ihrem Inputreferat erklärte sie, wie bereits im Jahr 2017 Frankreich das «Loi de vigilance» verabschiedete, welches die Unternehmen zur Einhaltung von Menschrechten, Umweltschutz und nachhaltigen Lieferketten verpflichten sollte. Der EU- Entwurf folgte dann im Jahr 2022 und nun im Juni 2023 wurde das EU-Lieferkettengesetz, ähnlich der Forderung der Initiative für Konzernverantwortung in der Schweiz, eingeführt. Ximena González, Menschenrechtsaktivistin und Anwältin aus Kolumbien erzählte von ihrer Arbeit am Tierra Digna Center for Social Justice Studies, bei welchem sie als Gründerin und Co-Direktorin gewirkt hatte. Das Center wurde gegründet, um den Prozess um den Fluss Atrato zu lancieren und zu unterstützen. Zusammen mit ethnischen Minderheiten und lokalen Gemeinschaften dokumentierten sie Umweltverschmutzungen und unkontrollierten Ressourcen – Abbau und dessen Auswirkungen auf die Gesundheit der Beteiligten. Der Prozess wurde 2017 gewonnen. Jedoch sei die Umsetzung der Gesetze oftmals aufgrund von Korruption sehr schwierig. Seraina Patzen von der Koalition für Konzernverantwortung arbeitet für die Konzernverantwortungsinitiative, die 2020 in der Schweiz zur Abstimmung kam. Die Initiative wurde zwar von einer Mehrheit der Stimmberechtigten angenommen, scheiterte jedoch am Ständemehr. Gemäss Seraina Patzen müssten Firmen am Hauptstandort zur Rechenschaft gezogen werden können, was auch eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung unterstütze.

Handlungsmöglichkeiten
Das EU-Lieferkettengesetz wird in Bälde in Kraft treten und damit wird auch der Druck auf die Schweiz weiter steigen, ein solches Gesetz zu verabschieden. Die Koalition für Konzernverantwortung wird versuchen die Initiative in einzelnen Kantonen nochmals zu initiieren, um durch eine mögliche Annahme in einem Kanton, das Thema auch wieder für die Gesamtschweiz zu lancieren, um z.B. nicht Wettbewerbsnachteile für gewisse Regionen zu schaffen. In Ländern, die eine Klagemöglichkeit gegen Unternehmen haben, sei jedoch eine Art «Flut an Klagen gegen Unternehmen» bisher ausgeblieben, wie das oft von liberaler Seite befürchtet wurde. Es sei auch eine weitere Möglichkeit, laut Gonzales, Naturgebiete die Flüsse als juristische Personen zu deklarieren, um deren Rechte vor Gericht besser einklagen zu können, was sie selbst erfolgreich umgesetzt hatte.

Medien unter Druck?

28. September 2023 | 18.30 | Markthalle Basel

Nach Inputreferaten von Manuel Puppis (Professor für Medienstrukturen und Governance der Universität Fribourg) und Camille Roseau (Co-Präsidentin des Verbands Medien mit Zukunft) diskutierten André Moesch (Telebasel), Andreas Möckli (BZ Basel), Ina Bullwinkel (Bajour) und Alessandra Paone (OnlineReports). Moderiert wurde die Runde von Nick Lüthi (persoenlich.com).

Brechen Qualität und Vielfalt der Medien weg, gerät ein wichtiger Pfeiler der Demokratie ins Wanken. Was sind mögliche Antworten, auch jenseits der politischen Regulierung? Wie sehen lokale Journalist*innen die aktuellen Herausforderungen und die Relevanz des (Lokal)journalismus für die Demokratie? Die Veranstaltung wurde zusammen mit dem Verband Medien mit Zukunft organisiert.

In den Inputreferaten von Professor Manuel Puppis und Camille Roseau wurde deutlich, dass die Medienhäuser der Schweiz dringend finanzielle Mittel brauchen. Die Umstellung von Print auf digitale Versionen hat die Medienlandschaft stark verändert und die Nachfrage nach Zeitungs-Abonnementen ist zurückgegangen. So stehen den Medienhäusern immer weniger finanzielle Mittel zur Verfügung, was zur Folge hat, dass weniger angestellte Journalist*innen versuchen, die gleiche Arbeit, mit gleicher Qualität zu machen. In der Branche häufen sich einerseits Burnouts, jedoch sind andererseits auch gezielte Klagen von Institutionen, die sich gegen Journalist*innen wenden, ein Problem. In der anschliessenden Diskussionsrunde wurde weiter der Nachwuchs- und Fachkräftemangel, sowie die Möglichkeit von Werbeeinnahmen thematisiert.

Handlungsmöglichkeiten
Das letzte Massnahmenpaket zu Gunsten der Schweizer Medien wurde 2022 in einer Volksabstimmung abgelehnt. Sowohl Manuel Puppis als auch Camille Roseau wiesen auf das neue Positionspapier der Eidgenössischen Medienkommission hin, die auf den Wandel in der Medienbranche hinweist und einen Systemwechsel vorschlägt. So soll eine Plattform eingerichtet werden, die vom Bund unterstützt wird, und bei der die Angebote (wie Print, Video oder E-Paper) als gleichwertige Produkte angeboten werden können. Roseau erwähnte die Möglichkeit von Austausch, Synergien und Zusammenarbeit insbesondere z.B. unter kleineren Medienplattformen und den Journalist*innen.

Enttäuschte Bürger*innen und die Reaktion der institutionalisierten Demokratie – Erfahrungen aus drei Ländern.

21. November 2023 | 18.30 | kHaus Basel

Die Diskussionsveranstaltung vom Abend des 21. Novembers im kHaus Basel ging dem Phänomen Politik-enttäuschter Bürger*innen im Dreiland Deutschland, Frankreich und der Schweiz nach. Sie wurde mit einer Begrüssung von Tim Cuénod, Grossrat und Präsident des trinationalen Eurodistrictrates Basel (TeB), eröffnet. Es folgte ein Inputreferat der Politikwissenschaftlerin Dr. Magdalena Breyer, Universität Basel, und eine Diskussion unter den drei Vertretenden der institutionalisierten Demokratie aus dem Dreiland, Jörg Lutz (Oberbürgermeister Lörrach), Martin Leschhorn Strebel (Präsident Einwohnerrat Riehen), und Josiane Chappel (1ère adjointe au maire, Hésingue), moderiert von Claudia Kenan (Regionaljournal SRF).

In ihrem Inputreferat ging die Politikwissenschaftlerin Dr. Magdalena Breyer, Universität Basel, dem Phänomen der Nichtwähler*innen und enttäuschten Demonstrant*innen auf den Grund. In Umfragedaten zeige sich, so Breyer, dass sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland und Frankreich das Vertrauen in die Demokratie und den Staat relativ stabil sei. Enttäuschte Bürger*innen seinen oftmals von realem oder befürchteten Statusverlust betroffen. Ein gesundes Mass an Misstrauen, das offen geäussert werden kann, sei aber auch Zeichen einer demokratischen Stärke.

Ausgegend von den Anti-Corona-Demonstrationen im Dreiland und der Klima-Bewegung erläuterte Lutz, dass sich Bürger*innen entmündigt fühlen können, wenn man ihnen zu viele Regeln auferlege. Jedoch sei die Energiewende und die gesellschaftliche Transformation wichtig und deshalb müsse man in «Graswurzel-Arbeit» mit den Leuten persönlich ins Gespräch kommen. Die gegenwärtige Multi-Krise mit Klimawandel, der erst seit kurzem vergangenen Corona-Pandemie und neuen Kriegen führe zu Verunsicherung in der Gesellschaft. Aber, so schlussfolgerte Lutz, jede Generation müsse sich die Demokratie neu erkämpfen. Leschhorn Strebel äusserte Verständnis dafür, wenn Bürger*innen die Energiewende nicht mittragen könnten, weil es sie z.B. zu viel koste, eine Wärmepumpe zu installieren, darum müsse der Staat finanzielle Anreize schaffen. Während sich gewisse Personen aus den demokratischen Prozessen verabschieden, seien aber auch 40% der Schweizer Bevölkerung mit Migrationshintergrund von den demokratischen Prozessen gänzlich ausgeschlossen. Er wies auch darauf hin, dass im Wort «Wutbürger*in» mit der Wut eine transformatorische Kraft stecke, die bei einem Engagement, in der Politik und bei Projekten in produktive Arbeit umgewandelt werden könnte. Chappel berichtete dazu von ihrem Engagement in Hésingue, mit Fokus auf Partizipationsmöglichkeiten und Erlernen der demokratischen Kultur, etwa im lokalen Kinderparlament.

Handlungsmöglichkeiten
Handlungsmöglichkeiten sahen die Referentin und die VertreterInnen der institutionalisierten Politik im Sensibilisieren bezüglich gesellschaftlicher Aufstiegsmöglichkeiten, in dem Sinne, dass es nicht bedeute, den eigenen Status automatisch zu verlieren, nur weil andere Gruppen auch bessere gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten haben. Weiter liege viel Potential in verstärkter demokratischer Bildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die im demokratischen Aushandeln und Diskutieren gestärkt werden sollen. Ausserdem wurden staatliche Unterstützungsmöglichkeiten gefordert, insbesondere was die Finanzierung der Energiewende und damit verbundene Zusatzkosten für einkommensschwache Haushalte betreffe.

Politik jenseits von links und rechts?
Parteien, Bewegungen und Demokratie in Frankreich seit 2017


30. November 2023 | 19.30 | Online

Mit der Wahl von Emmanuel Macron implodierte im Jahre 2017 das Parteiensystem in Frankreich. Die traditionellen Parteien der Gaullisten und Sozialisten wurden unbedeutend. Ideologische Lagerbindung wurde durch angebliche „Bewegungen“ ersetzt, ihnen gehört heute die politische Bühne. Was ist die Bilanz? Und was sind die Gefahren dieser Entwicklung? Referat und Diskussion mit Dr. Zoé Kergomard, Oberassistentin an der Universität Zürich, moderiert von Simeon Marty, Anny Klawa-Morf-Stiftung.

Zoé Kergomard ging in ihrem Referat auf die Entwicklung in der politischen Landschaft Frankreichs seit 2017 ein. Vor 2017 habe es bei Wechseln in der Regierung jeweils eine Ablösung zwischen linken und rechten Regierungsparteien gegeben. Diese Dynamik des Machtwechsels habe zu einer Erneuerung von Ideen und «frischem Wind» geführt. Da Macrons «Bewegung» nun losgelöst vom Parteispektrum politisiert, habe es diesen klassischen Machtwechsel nicht gegeben. Seine Organisation sowie auch die Regierungsgeschäfte seien sehr stark auf seine Person konzentriert. Teilweise würden ausserdem Gesetze durchgesetzt, die nicht dem Willen der Mehrheit entsprechen würden, wie z.B. bei der Rentenreform. Auch die polizeiliche Repression sei stärker geworden, so dass z.B. das Demonstrieren, in Frankreich sehr beliebt, schwieriger geworden sei. Das Erstarken des Front National habe zu einer Normalisierung der extremen Rechten geführt und auch viele Medienhäuser würden vermehrt «Kulturkampf-Themen» bedienen und konservativer berichten.

Handlungsmöglichkeiten
Gemäss Zoé Kergomard müssten die Parteien wieder vermehrt miteinander diskutieren. Viele Politiker*innen seien sehr vorsichtig geworden und versuchten Konflikte eher zu vermeiden. Kergomard forderte auch eine konkrete Verfassungsrevision, um die Macht des Präsidenten gesetzlich einzuschränken. Auch Zivilpersonen würden jedoch nun versuchen, vor Gericht zu klagen, denn Demonstrieren und ziviles Engagement müsse weiterhin möglich sein. Die staatlichen, finanziellen Mittel sollten ausserdem gerechter verteilt werden. Auch gegen geschlechtsspezifische Gewalt müsse besser vorgegangen werden.

 

Alphabet – 130 Jahre Anny Klawa-Morf

Artikel
admin

In diesem Jahr würde Anny Klawa-Morf 130 Jahre alt. Dieses Alphabet zu ihrem Jubiläumsjahr verbindet jeweils einen Buchstaben des Alphabets mit Themen aus ihrem Leben und Wirken. Mit einem Klick auf den Link gelangst du zum jeweiligen Buchstaben.

A wie Anny Klawa-Morf
B wie Biografie
C wie Care-Arbeit
D wie Demonstrationen
E wie Entbehrungen
F wie Frauenrechte
G wie Genossin
H wie Hunger
I wie Inhaftiert
J wie Jugendorganisation
K wie Klawa, Janis
L wie Länggasse
M wie Medien
N wie Nähen, weben, putzen, schreiben
O wie Ordnung
P wie Politikerin
Q wie Quetschungen
R wie Rede
S wie Sozialistin und Sozialdemokratin
T wie Textilarbeit – Ausstellung
U wie Unterwegs
V wie Verdingkinder
W wie Weltkriege
X wie Karl MarX
Y wie EmmY und RösY
Z wie Zürcher Generalstreik 1912

Anny Klawa-Morf kam 1894 in Basel zur Welt und war eine wichtige Figur der schweizerischen Sozialdemokratie und eine Vorkämpferin für Frauenrechte, insbesondere für Arbeiter*innen. Sie wuchs in einfachen Verhältnissen auf und arbeitete nach Umzug der Familie nach Zürich bereits mit 14 Jahren als Fabrikarbeiterin in der Textilindustrie. Die wissbegierige junge Frau engagierte sich in der Züricher Arbeiter*innenbewegung und insbesondere im Vorstand der sozialistischen Jugend, innerhalb derer sie 1910 die erste sozialistische Mädchengruppe der Schweiz gründete. Anny Klawa-Morf war auch in der schweizerischen Sozialdemokratie ausgezeichnet vernetzt. 1912 organisierte sie den Zürcher Generalstreik mit, in den Jahren des Ersten Weltkrieges unterstützte sie die pazifistischen Proteste der Arbeiter*innenbewegung. Daneben besuchte sie Kurse an der Universität Zürich. 1919 ging die junge Frau nach München, um im Aufbau der Münchner Räterepublik mitzuarbeiten, einem Versuch, eine sozialistische Republik zu etablieren. Dort arbeitete sie im Büro der Roten Armee als Sekretärin von Ernst Toller und erlebte den Zusammenbruch der Räterepublik mit. Ab 1921 lebte sie in Bern, wo sie 1922 den lettischen Revolutionär und Journalisten Janis Klawa heiratete. Im selben Jahr gründete sie die sozialdemokratische Organisation der Kinderfreunde («Rote Falken»), die sie bis 1967 leitete. Anny Klawa-Morf starb 1993 in ihrem 100. Lebensjahr in Bern. Sie erlebte damit fast ein ganzes Jahrhundert Schweizer Geschichte, das sie durch ihre Beteiligung in der Arbeiter*innenbewegung und dem Kampf für Frauenrechte mitprägte.


Zurück zum Alphabet.

 «Die Welt ist mein Haus», verfasst von Annette Frei Berthoud, heisst die Biografie von Anny Klawa-Morf. Im Frühling 2024 erscheint eine überarbeitete Neuauflage mit Beiträgen des Geschichtsprofessors Jakob Tanner, der Autorin Annette Frei Berthoud und den Direktorinnen des Gosteli-Archivs für Frauengeschichte, Simona Isler und Lina Gafner. Das Buch wird von der Anny-Klawa-Morf-Stiftung herausgegeben und umfasst auch einen grossen Bildteil mit bisher unveröffentlichten Fotografien.

Der Titel bezieht sich auf Anny Klawa-Morfs Überzeugung als Sozialistin und Frauenrechtlerin. In ihrer Biografie schildert sie: «Es wurde für uns immer deutlicher, dass die Stellung der Frau verändert werden musste. In ihrem Vortrag hatte Frau Ostersetzer gesagt: Das Haus ist nicht mehr die Welt der Frau, sondern die Welt ist ihr Haus.»
Die Welt ist mein Haus


Zurück zum Alphabet.

Anny Klawa-Morf musste bereits in jungem Alter grosse Verantwortung in ihrer Familie übernehmen. In einem Haushalt mit einem abwesenden Vater und einer erwerbstätigen Mutter half sie der Mutter bei ihrer Heimarbeit. Ausserdem arbeitete sie an verschiedenen Orten und Städten als «Dienstmädchen», «Zimmermädchen» oder Haushälterin in Familien, um Geld für den Lebensunterhalt ihrer Familie zu verdienen. Später im Leben übernahm sie den Haushalt ihres Ehemanns Janis Klawa und dessen Tochter aus erster Ehe, und nahm ihre Mutter bei sich auf. Dazu betreute das Ehepaar Klawa-Morf immer wieder Kinder und Jugendliche, die selbst kein Zuhause hatten. 1922 gründete sie die sozialdemokratische Jugendorganisation «Roten Falken», welche sie über vier Jahrzehnte leitete und die sich um hunderte Kinder aus Arbeiter*innenfamilien kümmerte. Anny Klawa-Morf übernahm auch Care-Arbeit ausserhalb der Haushaltes. Während des Ersten und Zweiten Weltkrieges engagierte sie sich für das Rote Kreuz in Zürich und Chiasso, unter anderem beim Material- und Verwundetentransport. Während des Spanischen Bürgerkriegs in den 1930er Jahren zwischen den demokratischen Kräften und dem rechten, späteren Diktator General Francisco Franco engagierte sie sich in der Spanienhilfe des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH). Sie organisierte zahlreiche Unterstützungsaktionen im Kanton Bern. Dabei pflanzte sie mit Freiwilligen der Schweizer Spanienhilfe Lebensmittel an und schickten diese, zusammen mit Kleidern und weiteren Waren, in die Lager für Geflüchtete in Frankreich und Spanien. Insgesamt kamen über 800 Tonnen Hilfsgüter aus der Schweiz zusammen. Anny Klawa-Morf besuchte selbst mehrere Lager für Geflüchtete des Bürgerkriegs und engagierte sich in der Zusammenführung von Familien.

Zum Bild: Schweizerische Spanienhilfe des Kantons Bern, im Munzingerschulhaus in Bern werden Hilfsgüter auf einen Lastwagen geladen, 8. März 1938, im Vordergrund Erwin Wyss und hinter den Säcken Anny Klawa-Morf, die Leiterin

Zurück zum Alphabet.

Anny Klawa-Morf war Teilnehmerin und Organisatorin zahlreicher Demonstrationen und Streiks, so z.B. beim Züricher Generalstreik von 1912 oder bei beim Friedenskongress der Zweiten Internationalen im Basler Münster im gleichen Jahr. Der Hintergrund des Kongresses und der damit verbundenen Demonstration waren die Balkankriege 1912/13 und die Furcht vor einem sich ausweitenden Grosskrieg. An der Demonstration, an welcher über 500 internationale Demonstrant*innen teilnahmen, hörte Anny Klawa-Morf die Rede des bekannten Sozialisten Jean Jaurès. Die Reden, sowie der Friedensmarsch durch die Basler Innenstadt und das verfasste Friedensmanifest hatten eine europaweite Ausstrahlung. Die Zeitspanne zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg war eine der streikintensivsten der Schweizer Geschichte. Insbesondere der Zürcher Generalstreik von 1912, den Anny Klawa-Morf mitorganisiert hatte, stellt ein wichtiges Ereignis dar. Gründe für die Streikwelle waren die hohe Teuerung kombiniert mit tiefen Löhnen und langen Arbeitszeiten. Ausserdem wurde zuvor bei einem Streik des Metallarbeiterverbandes in Zürich ein Arbeiter von einem Streikbrecher erschossen. Beim historischen Landesstreik vom November 1918 wirkte Anny Klawa-Morf ebenfalls mit. Aufgrund des Ersten Weltkrieges fuhren die Unternehmer (vor allem in der Exportindustrie) zunehmend grössere Gewinne ein und die Kluft zwischen Unternehmen und Arbeiter*innenwurde grösser. Das Militär und die Polizei bekämpften die Demonstrationen insbesondere in Zürich am 10. November 1918. Anny Klawa-Morf arbeitete beim Druck und Verteilen der Flugblätter für den Streik mit und sah die Auseinandersetzungen zwischen Arbeiter*innen, Bauernschaft und der Polizei von weitem. Infolge des Streiks wurde bei 3500 Personen, vor allem Eisenbahnarbeitern, ein Verfahren eingeleitet. Jedoch stellte der Landesstreik auch einen Ausgangspunkt für Reformen dar. So wurde die Arbeitszeit auf 48 Stunden pro Woche verkürzt, die Exportindustrie war zu Verhandlungen mit den Gewerkschaften bereit, neue Gesamtarbeitsverträge wurden geschlossen und die AHV geschafften.

Zum Bild: 1. Mai in Zürich, ca. 1910 – „Nieder mit den Lehrlingsschindern“, „Nieder mit den Waffen“; vorne links mit Schärpe: Anny Klawa-Morf

Zurück zum Alphabet.

Anny Klawa-Morf wuchs im Arbeiter*innenmilieu zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Die Familie war arm: Beide Eltern, sowie ihre zwei Schwestern und sie selbst mussten bereits als Kinder arbeiten, um den nötigsten Lebensunterhalt zu verdienen. Als Schulkind nähte Anny Klawa-Morf nach der Schule in Heimarbeit Knopflöcher an Hemden, oftmals bis spät in die Nacht hinein. Damit verdiente sie zusätzliches Geld für die Familie. Ihre Eltern hatten mit Arbeitslosigkeit und wechselnden Jobs in Fabriken zu kämpfen, so z.B. in einer Automobil- oder Textilfabrik. Die Familie hatte oftmals zu wenig Geld für die Wohnungsmiete oder neue Schuhe und Lebensmittel, auch weil der Vater seinen Lohn häufig vertrank. Mit der Geldknappheit waren viele Wohnungswechsel verbunden. Die Entbehrungen ihrer Kindheit und Jugend prägten Anny Klawa-Morf, die sich im Erwachsenenleben stets für bessere Löhne und Lebensbedingungen für die Arbeiter*innenschaft einsetzte. In ihrer Biografie schildert sie, wie sie zu Beginn ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit die Nervosität vor öffentlichen Reden verlor: «Ich hatte mir diese Aufgabe nicht leicht vorgestellt, aber es war gar nicht so schwer, über das zu reden, was ich selber erlebte: Hunger, Elend und Not.» Die Welt ist mein Haus

Zum Bild: Schweizerische Zentralstelle für Heimarbeit; ältere Heimarbeiterin an ihrer Nähmaschine, Zürich ca. 1890-1910

Zurück zum Alphabet.

Anny Klawa-Morf engagierte sich bereits in jungem Alter und auch im späteren Leben stark für Frauenrechte. Die Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts war von einer tiefen Ungleichbehandlung von Frauen und Männern geprägt. Als Jugendliche musste sie sich die Teilnahme an Freizeitveranstaltungen erkämpfen, da diese oft nur für Burschen vorgesehen waren. Als Reaktion gründete sie mit 17 Jahren die sozialistische Mädchengruppe Zürich.
Als Textilarbeiterin machte Anny Klawa-Morf zahlreiche Erfahrungen mit Lohndiskriminierungen. Frauen verdienten in ihrer Branche in der Regel nur die Hälfte des Lohns, den Männer erhielten – für dieselbe Arbeit. Sie begann, sich in der Gewerkschaft der Arbeiter*innen für Lohngleichheit zu engagieren – und wurde deswegen entlassen. Als die Frauenbewegung nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920er Jahren in der Schweiz etwas zum Erliegen kam, schrieb sie mehrere Artikel in der Zeitung «Berner Tagwacht» und versuchte, die Frauenbewegung erneut zu mobilisieren. Ausserdem führte sie 1928 Studien zu Frauenlöhnen und Frauenarbeit durch, welche aufzeigten, dass Frauen vor allem im Bereich von Fürsorge- und Armenwesen, Gesundheitswesen und Schule tätig waren. Weiter analysierte sie die Löhne der Arbeiter*innen und kam zum Schluss, dass Frauen klar weniger verdienten als Männer, auch wenn sie die gleiche Arbeit ausführten. 1922 gründete sie die Organisation der sozialdemokratischen Kinderfreunde Bern, später «Rote Falken», wo sie stets durchsetzte, dass Mädchen und Jungen zusammen an Anlässen teilnahmen und gleiche Arbeiten übernahmen. Die Arbeit bei den «Roten Falken» war in dieser Hinsicht eine Fortsetzung ihres früheren Engagements für Einbezug und Anerkennung von Frauen.
Bereits 1929 sammelte sie Unterschriften für das Frauenstimmrecht und erlebte dessen Annahme im Jahr 1971 nach Jahrzehnten des Engagements in der Frauenbewegung. Für das Erreichen ihrer politischen Ziele schmiedete Anny Klawa-Morf auch Allianzen mit bürgerlichen Frauen.

Zum Bild: Anny Klawa-Morf 1911 auf dem Uetliberg mit Hosenrock. Der Hosenrock war damals noch ein relativ neues Kleidungsstück und erregte viel Aufsehen.

Zurück zum Alphabet.

Mit 17 Jahren trat Anny Klawa-Morf 1911 der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz bei, um sich für die Rechte der Arbeiter*innen zu engagieren. Sie stammte aus einer armen Arbeiterfamilie und musste bereits mit 14 Jahren in der Fabrik arbeiten, um Geld für den Lebensunterhalt der Familie zu verdienen. Dabei erlebte sie die katastrophalen Arbeitsbedingungen, die schlechten Löhne und die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern. Ihr schwebte eine gerechtere Gesellschaftsordnung vor, weswegen sie begann, sich politisch zu betätigen. 1912 organisierte sie den Zürcher Generalstreik mit, in den Jahren des Ersten Weltkrieges unterstützte sie die Proteste der Arbeiter*innenbewegung für den Frieden. Während ihrer aktivistischen Jahre schloss sie viele Freundschaften und lernte zahlreiche nationale und internationale Mitstreiter*innen kennen, unter anderem Willi Münzenberg, Fritz Platten, Rosa Bloch-Bollag und auch Vladimir Lenin, der in der Schweiz im Exil lebte. Sie war vor allem mit dessen Frau Nadeschda Krupskaja befreundet, bevor beide nach Russland reisten. 1919 ging Anny als junge Frau nach München. Dort arbeitete sie im Büro der Roten Armee als Sekretärin von Ernst Toller und erlebte den Zusammenbruch der Münchner Räterepublik. Ab 1921 lebte sie in Bern, arbeitete ab 1922 in einer Seidenfabrik und trat in die Sozialdemokratische Partei Länggasse ein, wo sie über siebzig Jahre Mitglied blieb und häufig internationale Genoss*innen in Bern empfing.
Ebenfalls in Bern gründete sie die Organisation der sozialdemokratischen Kinderfreunde Bern, später «Rote Falken». Mit den «Roten Falken» wollte sie Freizeitaktivitäten für Kinder aus Arbeiter*innenfamilien schaffen und gleichzeitig Werte wie Solidarität und Gleichbehandlung an junge Menschen vermitteln.

Zum Bild: Anny Klawa-Morf hält eine Rede vor Publikum, auf der Schulhaustreppe, dahinter Fahnenträger der Sozialistischen Jugend, in Leuzigen, 2. Rede, nachdem sie beim ersten Versuch weggejagt wurde, 7. April 1918

Zurück zum Alphabet.

In ihrer Jugend und auch als Erwachsene litt Anny Klawa-Morf häufig an Hunger. Ihre Familie hatte nicht genügend Geld, um ausreichend Lebensmittel oder Kohle und Holz zum Heizen zu besorgen. Auch später in ihrer Jugend und in ihren Anstellungen als junge Erwachsene hatte sie oftmals nur wenig Geld für Lebensmittel. Sie beschreibt in ihrer Biografie, wie oftmals ausser Brot, Kartoffeln und Milch kein Geld für weitere Lebensmittel blieb. Die Möglichkeit, in einem zur Wohnung gehörenden Garten eigenes Gemüse anzupflanzen, war ein Glücksfall. Diese Lebensbedingungen waren kein Einzelfall: Armut und Hunger waren im Arbeiter*innenmilieu zu Beginn des 20. Jahrhundert aufgrund schlechter Löhne und Lebensbedingungen verbreitet. 1919 schloss sich Anny Klawa-Morf der Roten Armee in München an und kam deshalb im gleichen Jahr ins Gefängnis Stadelheim bei Dachau. In einem Brief an ihre Mutter aus dem Gefängnis beschreibt sie den nagenden Hunger und die Mahlzeiten auf humoristische Art und Weise: «Nun hast Du so ein kleines Muster, wie die Zeit verschleicht von drei bis fünf Uhr, wenn wir zu Nacht essen, Suppe mit fünfzig Gramm Brot. Hier könntest Du noch kochen lernen. Gell, was fällt der Anny ein, Dich kochen lehren zu wollen, wo Du in den grössten Fremdenhotels gekocht hast, aber schau, ich meins nur gut, denn Du hast ja einen eigenen Garten, und da ist so manches, das Du pflanzest, das Du nicht ganz gebrauchst, so z.B. die Wurzeln vom Lauch, die geben eine vorzügliche Suppe, etwas Mehl dazu, und das Nachtessen ist fertig. Und so gibt es noch manches, ich sage Dir, koche in Zukunft einfach alles, das was ober der Erde wächst, wie das, was unter der Erde wächst, denn das habe ich hier gelernt und werde es mir aneignen, sollte ich einmal im Leben eine tüchtige Hausfrau werden, was ich ja zwar bezweifle. Nun weiter im Text, ich hätte ja bald vergessen, der Tag ist ja noch nicht zu Ende, und ich habe immer noch Licht in meinem Gemach, das mich daran erinnert, dass es noch nicht sieben Uhr ist, und mein Geselle Hunger, der wütet ganz unheimlich.»
Die Welt ist mein Haus

Zurück zum Alphabet.

Aufgrund ihrer politischen Tätigkeiten wurde Anny Klawa-Morf mehrmals inhaftiert. 1919 schloss sie sich der Roten Armee in Dachau bei München an, wo sie als Sekretärin von Ernst Toller in der Münchner Räterepublik arbeitete und deren Zusammenbruch miterlebte. Sie wurde zusammen mit anderen Sozialist*innen verhaftet und kam im Alter von 25 Jahren ins Gefängnis Stadelheim, wo sie unter Lebensgefahr inhaftiert war – einige ihrer Kolleg*innen wurden von den deutschen Sicherheitskräften wegen ihrer Rolle in der Räterepublik erschossen. Sie konnte glücklicherweise im Juni 1919 wieder in die Schweiz zurückkehren.
Seit der Gründung der sozialistischen Mädchengruppe 1911 und der Betätigung als Gewerkschafterin, die sich für bessere Löhne und Gleichbehandlung zwischen Frauen und Männern einsetzte, war sie jedoch in der Schweiz auf einer «Schwarzen Liste» unter Arbeitgebenden ausgeschrieben und hatte deshalb Mühe, Arbeit zu finden. Ausserdem belasteten sie die Erlebnisse aus der Haft in München sehr, weshalb sie sich entschied, wieder aus der Schweiz wegzureisen und eine Stelle als «Zimmermädchen» in einem Haushalt in Pisa anzunehmen. 1921 wurde sie jedoch in Pisa in der Zeit des frühen italienischen Faschismus wieder verhaftet, weil sie sich öffentlich zum Sozialismus bekannte. Drei Monate lang war sie in Italien erneut im Gefängnis. Im August 1921 konnte sie das Gefängnis wieder verlassen und reiste zurück in die Schweiz.

Zum Bild: Anny Klawa-Morf vor grossem Bogentor, Abano 1951

Zurück zum Alphabet.

1922 gründete Anny Klawa-Morf die sozialdemokratische Organisation der Kinderfreunde Bern («Rote Falken»). Sie leitete die Organisation bis 1967, also mehr als 40 Jahre lang. Die „Roten Falken“ waren Anny Klawa-Morfs eigentliches Lebenswerk. In einem extra dafür von ihrer Organisation erbauten Haus in Belp engagierte sie sich zusammen mit Helfer*innen und bot Ausflüge, Lager, Kochanlässe oder Bastelnachmittage für die Kinder und Jugendliche der Gemeinde an – ähnlich wie in einer Pfadfinderorganisation. Es war ihr wichtig, dass die Kinder nicht nur zur Schule gingen oder arbeiteten, sondern auch glückliche Tage in ihrer Freizeit erlebten. Es durften sowohl Mädchen und Jungen an ihren Anlässen teilnehmen, was für die damalige Zeit nicht selbstverständlich war. Sie versuchte die Kinder und Jugendlichen für eine solidarische Gesellschaft zu sensibilisieren, setzte sich dafür ein, dass sie die Zeitung lasen und insistierte, dass sie eine Ausbildung machten. Dazu war es ihr wichtig, mit der Organisation Werte wie Solidarität und Gleichbehandlung an junge Menschen zu vermitteln. Mehrmals nahm sie Kinder, die aufgrund von Schicksalsschlägen keine Familie oder Perspektive mehr hatten, über Jahre in ihrem Haushalt auf, bis diese nach abgeschlossener Ausbildung selbstständig durchs Leben gehen konnten.

Zum Bild: Kinder, dazwischen Anny Klawa-Morf, Zeltlager der Kinderfreunde/Rote Falken, Caslano 1935

Zurück zum Alphabet.

1922 zog Anny Klawa-Morf nach Bern und trat der Sozialdemokratischen Partei der Länggasse in Bern bei. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann, Janis Klawa, kennen, einen lettischen Journalisten und Revolutionär. Janis Klawa hatte sich in sie verliebt, und warb auf langen Spaziergängen um sie. Anny Klawa-Morf gibt in ihrer Biografie an, dass sie Janis zuerst konsequent abwies, da sie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht hatte und keine Hausfrau werden wollte. Sie begann als Haushälterin bei ihm zu arbeiten. Aus dem Zusammenleben wurde Liebe. Janis Klawa lebte mit seiner Tochter in Bern, seine erste Frau lebte noch in Lettland. Nach der Scheidung heirateten er und Anny Klawa-Morf am 11. November 1922. Das Leben mit Janis Klawa beschreibt sie in ihrer Biografie als glücklichste und befreiteste Zeit in ihrem Leben.
Sie leitete die Jugendorganisation Kinderfreunde Bern («Rote Falken»), kümmerte sich um den Haushalt, besuchte Vorlesungen an der Universität, lernte auf der Schreibmaschine zu schreiben, verfasste Artikel für sozialdemokratische Zeitungen und schrieb die handverfassten Artikel ihres Mannes auf der Maschine ab und redigierte sie. 1956 starb Janis im Alter von 80 Jahren, das Paar war mehr als 30 Jahre verheiratet.

Zurück zum Alphabet.

1922 zog Anny Klawa-Morf nach Bern ins Länggass-Quartier, wo sie zeitlebens wohnhaft blieb. Davor hatte sie in Basel, Thurgau, Zürich, La Chaux-de-Fonds, Dachau bei München, Mailand und Pisa gelebt. Als Kind musste sie durch viele Stellenwechsel und Arbeitslosigkeit des Vaters und dem Geldmangel der Familie häufig die Wohnung wechseln, und auch als junge Erwachsene zog sie oft um, auch wegen Konflikten aufgrund ihrer politischen Arbeit mit Sicherheitskräften. Die Länggasse wurde ab 1922 ihre Wahlheimat, wo sie bis zu ihrem 100. Lebensjahr 1993 wohnhaft blieb. Nach vierzig Jahren in der gleichen Wohnung musste sie 1973 wegen Eigenbedarf des Vermieters ausziehen. Sie fand nochmals eine Wohnung im Länggass-Quartier. In der lokalen SP-Sektion «Länggasse» war sie über siebzig Jahre engagiertes Mitglied.

Zum Bild: Weihnachtsfeier bei Klawas in Bern, viele in Rote Falken-Uniformen, 1942


Zurück zum Alphabet.

Anny Klawa-Morf verfasste regelmässig Artikel für Medien der Arbeiter*innenbewegung, wie die «Berner Tagwacht» (unter dem Pseudonym «$»), den «Aufstieg» oder das «Frauenrecht». Mit ihren Beiträgen wollte sie Öffentlichkeit für Themen herstellen, die ihrer Meinung nach zu wenig in den Medien thematisiert wurden, wie etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frauenrechte. Sie wurde auch in verschiedensten Medien erwähnt. In einer Ausgabe der «Schweizer Illustrierten» von 1919 beispielsweise war sie auf einem Gruppenfoto mit anderen Sozialist*innen abgebildet. Sie wurden als «schweizerische Bolschewistenführer» betitelt. Es existieren zahlreiche weitere Zeitungsartikel von und über Anny Klawa-Morf, wie auch zwei Filme («Ich ha nie ufgä», 1982, von Ellen Steiner und Annette Frei Berthoud, und «Anny Klawa-Morf – Nachdenken über eine Arbeiterfrau, 1994, von Hans-Dieter Rutsch aus Potsdam). 1991 erschien «Die Welt ist mein Haus: Das Leben der Anny Klawa-Morf», verfasst von Annette Frei Berthoud. Diese Biografie erscheint 2024 als Neuauflage mit neuen Beiträgen des Geschichtsprofessors Jakob Tanner, der Autorin Annette Frei Berthoud und den Direktorinnen des Gosteli-Archivs für Frauengeschichte, Simona Isler und Lina Gafner. Das Buch wird im Buch & Netz Verlag publiziert und umfasst einen Bildteil mit zum Teil unveröffentlichten Fotografien. In der Monatsschrift des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Band 20 (1928) schrieb Anny Klawa-Morf einen Artikel mit dem Titel «Frauenlöhne und Frauenarbeit», in welchem sie die Löhne der Textilarbeiter*innen, ihre Arbeit, die Unterernährung und die zusätzliche Belastung durch den Haushalt analysierte.

Hier geht’s zum ganzen Artikel.

Zurück zum Alphabet.

Als Mädchen, Jugendliche und junge Erwachsene arbeitete Anny Klawa-Morf immer wieder als Textilarbeiterin in Fabriken oder Heimarbeit, als Näherin, Stickerin, Weberin oder Andreherin (Einspannen der neuen Kettfäden, Verknüpfen mit den alten Fäden). Die damaligen Arbeitsbedingungen waren hart – Unterernährung, Überstunden, schlechter Lohn, ungleiche Löhne für Männer und Frauen und schwere Arbeit waren verbreitet. In ihrer Biografie schildert Anny Klawa-Morf, wie sie während ihrer Anstellung als Weberin Tapeten für die britische Königsfamilie im Buckingham-Palace fertigte, hunderte Meter Jagdszenen mit Pferden, Hunden, Kaminfeuern und Jagdhütten, mit Fäden aus Gold und Silber. Gleichzeitig konnten sie und ihre Mitarbeiter*innen nur mit Mühe ihren Lebensunterhalt bestreiten von dem sehr niedrigen Lohn. «Die haben solche Tapeten, und wir verdienen so wenig…», dachte sie während dieser Arbeiten und verwendete das Beispiel oft in der Agitation für die Gewerkschaft. Anny Klawa-Morf nahm aber auch Stellen als «Postmädchen» (Botengänge für die Textilfabrik), «Dienstmädchen, «Zimmermädchen», Putzkraft, Wäscherin, Haushaltshilfe oder als Haushälterin an. In ihrer Tätigkeit als Politikerin arbeitete sie als Büromitarbeiterin, schrieb und hielt Reden oder veröffentlichte Zeitungsartikel. Im Alter von 62 Jahren, nach dem Tod ihres Mannes, suchte sie nochmals Arbeit, da sie von ihrer Rente nicht leben konnte. Nach erneuter Arbeit als Reinigungskraft fand sie schliesslich eine Anstellung als Büromitarbeiterin bei der SMUV-Krankenkasse (Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeiter Verband, Vorgängerorganisation der heutigen Gewerkschaft Unia) bei der sie weitere 21 Jahre blieb. Anny Klawa-Morf war eine Arbeiterin, ihr Engagement für bessere Arbeitsbedingungen und eine gerechte Weltordnung spies sich aus ihren alltäglichen Erfahrungen mit prekären Arbeitsbedingungen.

Zum Bild: Näher*innen in der Näherei von Scheitlin und Borner Leinenindustrie an Nähmaschinen, 1985.

Zurück zum Alphabet.

Mit Arbeitsstellen als Putzkraft, Wäscherin oder Haushälterin war Ordnung schaffen Teil des Berufslebens von Anny Klawa-Morf. Viel wichtiger war ihr aber ihr politisches Engagement für eine gerechtere Gesellschaftsordnung. Ihr ganzes Leben lang hatte sie erfahren, wie Arbeiter*innen systematisch ausgebeutet und benachteiligt wurden. Der Lohn für Arbeiter*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz reichte in der Regel kaum für Essen, Miete und Heizen im Winter gleichzeitig. Frauen verdienten dabei nochmals deutlich weniger als Männer. Ein Sozialsystem wie die gesetzliche Rente (AHV), eine Arbeitslosen- oder Krankenversicherung existierte nicht. Daher befürwortete sie die «den revolutionären Kampf», den Sozialismus und die Organisation in den Gewerkschaften, weil sie realisierte, dass den Arbeitnehmenden niemand half, sie mussten sich selbst helfen. In ihrer Biografie schildert sie, wie sie zum ersten Mal öffentlich politische Reden hielt: «Ich hatte mir diese Aufgabe nicht leicht vorgestellt, aber es war gar nicht so schwer, über das zu reden, was ich selber erlebte: Hunger, Elend und Not.» Die Welt ist mein Haus In ihrem Einsatz für eine neue politische Ordnung kam sie immer wieder mit den Hütern der herrschenden Gesellschaftsordnung, der Polizei, in Kontakt. Anny Klawa-Morf wurde seit der Gründung der sozialistischen Mädchengruppe von der Schweizer Polizei und später auch von der deutschen und italienischen Polizei beschattet. In München musste sie nach dem Zusammenbruch der Räterepublik 1919 unter Lebensgefahr vor deutschen Sicherheitskräften fliehen. In Italien wurde sie in der Zeit des frühen italienischen Faschismus drei Monate wegen einer kritischen Bemerkung (die sie im Haushalt geäussert hatte, in dem arbeitete)inhaftiert und danach ausgeschafft.

Zum Bild: Anny Klawa-Morf mit Polizist ca. 1920-1930


Zurück zum Alphabet.

Anny Klawa-Morf lebte ein politisches Leben – eine politische Karriere war für sie jedoch unmöglich. Frauen konnten in der Schweiz vor 1971 nicht wählen, abstimmen oder öffentliche politische Ämter ausüben. Anny Klawa-Morf gründete 1911 die sozialistische Mädchengruppe, organisierte zahlreiche Streiks und Protestaktionen und war im In- und Ausland in der Arbeiter*innenbewegung bestens vernetzt. Innerhalb der Sozialdemokratie war es Frauen möglich, Parteiämter zu übernehmen, so war Anny Klawa-Morf etwa Delegierte der SP Stadt Bern. In öffentliche Ämter gewählt werden konnte sie als Frau aber bis zur Einführung des Frauenstimmrechts nicht.


Zum Bild: Anny Klawa-Morf, eine Rede haltend bei der SP-Frauengruppe Burgdorf am internationen Tag der Frau, 8. März 1979.

(mehr …)