Monat: Juni 2023

Demokratie, Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Wandel: Impulse für die linke Bewegung

Artikel
Marlo Roth

In der dritten Veranstaltung der Online-Reihe „Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert?“ trafen die Deutsche Philosophin und Autorin Lisa Herzog und Pascal Zwicky vom Denknetz zusammen, um über die Möglichkeiten und Herausforderungen eines modernen Sozialismus zu diskutieren. In einem lebendigen Gespräch gewährte Lisa Herzog Einblicke in ihr vielfältiges Wirken und setzte spannende Impulse für die Gestaltung von Demokratie und Arbeit.

Das Wichtigste in Kürze

  • • Für Lisa Herzog ist die Demokratie der Grundpfeiler einer gerechten Gesellschaft.
  • • Die Initiative „Democratizing Work“ fordert die Demokratisierung, Dekommodifizierung und Dekarbonisierung der Arbeit.
  • • Neue Institutionen auf übergeordneter Ebene seien entscheidend, um die Wirtschaft zu demokratisieren und globale Probleme zu lösen.
  • • Ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine Jobgarantie könnten soziale Ungleichheiten bekämpfen.
  • • Die Anerkennung unterschiedlicher Formen des Wissens und die Regulierung von Wissensprozessen seien wichtig für die Demokratie.
  • • Eine Verkürzung der Arbeitszeit würde die Zivilgesellschaft stärken und könnte eine sozial-ökologische Gesellschaftstransformation voranbringen.

Lisa Herzog, sind Sie zur Sozialistin geworden?

Bezugnehmend auf Lisa Herzogs Buch Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemässen Liberalismus, startete Moderator Pascal Zwicky mit dieser Frage ins Gespräch. Herzog meinte, dass für sie die Demokratie an erster Stelle stehe, aus der sie die notwendigen Richtlinien für die Gestaltung der Gesellschaft ableite. Es gehe nicht darum, zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu wählen, sondern darum, Bausteine aus den verschiedenen Traditionen zu nutzen und diese im Rahmen der Demokratie zu betrachten.

Herzog wies darauf hin, dass der überladene Sozialismusbegriff der Bildung von Koalitionen sogar schaden könne. Der Begriff schrecke Menschen ab, die eigentlich inhaltlich übereinstimmen würden. Sie plädierte stattdessen für konkrete, mehrheitsfähige Konzepte, die den heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht würden.

Pascal Zwicky räumte ein, dass die Autoren Klaus Dörre und Raul Zelik den Sozialismusbegriff sehr wohl als hilfreich erachten, da er das Eigentum ins Zentrum stelle und Alternativen aufzeigen könne. Herzog entgegnete, dass Macht nicht nur auf Eigentum basiere und verschiedene Ursprünge habe.

Als Beispiel nannte Herzog sich selbst: Obwohl sie persönlich keine Kapitalistin sei, verfüge sie durch ihr Netzwerk und ihre Karriere trotzdem über Macht. Menschen wie sie könnten nicht durch die Verstaatlichung von Macht zur Verantwortung gezogen werden, sondern durch Feedbackstrukturen und Governance-Systeme.

Die Gesellschaft in der Krise

Herzog kritisierte den vorherrschenden Diskurs über multiple Krisen als lähmend. Generationen vor uns hätten ebenfalls schwierige Herausforderungen erlebt. Dennoch sei offensichtlich, dass der Neoliberalismus nicht funktioniere. Dies zeige sich anhand von Beispielen wie dem Klimawandel, der Armut und der Ausbeutung des globalen Südens. Gerade der Klimawandel habe aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit auch eine andere Qualität als frühere Krisen.

Herzog stellte fest, dass vielen Menschen bereits klar sei, dass es ein neues System brauche. Trotzdem habe sich das Konsumverhalten noch nicht weit genug verändert. Die Philosophin zeigte sich jedoch optimistisch: Die Transformations-Bewegung habe zwar weniger Geld als die Seite der Deregulierung, könne aber mehr Herzen gewinnen.

Arbeit neu denken

Lisa Herzog berichtete von ihrem Engagement in der internationalen Initiative „Democratizing Work“, die ein Manifest veröffentlicht hat (siehe in diesem Kontext auch Herzogs Buch Die Rettung der Arbeit). Das Manifest sei in einem Moment in der Pandemie entstanden, in dem die Bedeutung der „systemrelevanten Arbeit“ und insbesondere auch der Sorgearbeit in Familien und Pflegeeinrichtungen deutlich geworden sei. Das Manifest zielt auf einen Wandel der Arbeitswelt und umfasst  drei Forderungen: die Demokratisierung, Dekommodifizierung und Dekarbonisierung der Arbeit.

Im Rahmen der Demokratisierung fordert die Initiative eine stärkere Mitbestimmung in Firmen und mehr Rechte für Arbeitende. Unternehmen sollten keine feudalen Strukturen unter dem Vorwand der Effizienz aufrechterhalten dürfen.

Bei der Dekommodifizierung strebt die Bewegung an, dass der Lohn nicht länger vom Markt abhängig sei. Insbesondere die Care-Arbeit solle besser entlohnt werden.

Mit der Dekarbonisierung macht das Manifest auf Umweltprobleme und die planetaren Grenzen der Erde aufmerksam. Nachhaltige Arbeit sei grundsätzlich radikal, da das Wirtschaftssystem nicht allein darüber entscheiden dürfe, welche Arbeiten wichtig seien. Dies müsse durch demokratische Prozesse geschehen.

Mitbestimmung, lokal und global

Lisa Herzog betonte die Notwendigkeit, nicht nur einzelne Firmen zu demokratisieren, sondern auch neue Institutionen auf übergeordneter Ebene zu schaffen. Die traditionelle Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Kapital sei zu einseitig, da wichtige Interessengruppen, wie Arbeitslose und die Umwelt, keine Stimme bekämen.

Besonders im globalen Süden müsse die Mitbestimmung in der Arbeitswelt anders gestaltet werden, da dort etwa 70% der Arbeit informell sei. Eine alleinige Demokratisierung von Unternehmen sei in diesem Kontext wenig sinnvoll.

Darüber hinaus sei eine internationale Zusammenarbeit wichtig, insbesondere angesichts der globalen Natur von Wertschöpfungsketten und Umweltproblemen.

Die Vereinten Nationen sieht die Philosophin jedoch kritisch. Sie seien von mächtigen Staaten des globalen Nordens dominiert und würden dadurch im globalen Süden an Legitimität verlieren. Als Alternative schlug Herzog einen Völkerbund nach Immanuel Kant vor, der auf einer Gleichberechtigung der Nationen basiere.

Hürden für die Wirtschaftsdemokratie

In der Diskussion wurde die Sorge geäussert, dass die Pandemie die Demokratisierung der Arbeit erschwert habe. Herzog betonte, dass eine rein digitale Arbeit das Vertrauen unter Kolleg:innen beeinträchtigen könne.

Zusätzliche familiäre Verpflichtungen hätten auch dazu geführt, dass das Homeoffice oft auf dem Rücken von Frauen ausgetragen worden sei. Laut Studien hätten Wissenschaftlerinnen während den Lockdowns daher weniger publiziert.

Eine weitere Schwierigkeit für die Demokratisierung der Wirtschaft sieht Herzog im sogenannten Mittelstandsbias. Der Mittelstand habe oft mehr Flexibilität, Zeit und Kapital, um sich politisch zu engagieren. Dieses Problem könne man zum Beispiel mit einer vorläufigen Kammer im Parlament für die Arbeiter*innenschicht angehen.

Herzog betonte, dass gesellschaftliche Spaltungen eine Gefahr für die Demokratie darstellen würden. Zum Beispiel fühle sich der ländliche Raum in der Politik vernachlässigt, was zu Protestwahlen geführt habe. In Bildung zu investieren und Begegnungsorte zu schaffen, könne den Austausch zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft fördern.

Im Kampf gegen soziale Ungleichheiten: Ein Recht auf Geld?

Ein bedingungsloses Grundeinkommen könne, laut Herzog, in bestimmten Situationen sinnvoll sein. Es habe einen entstigmatisierenden Effekt, da es alle Menschen einschliesse.

Allerdings betonte Herzog auch, dass das bedingungslose Grundeinkommen allein nicht ausreiche, um soziale Ungleichheit zu verringern. Sie befürchte, dass ein solches System dystopische Szenarien hervorrufen könnte, in denen Menschen ihre soziale Einbindung und Arbeit verlieren würden. Die Finanzierung und Verantwortlichkeit der Umsetzung seien ebenfalls schwierige Fragen. Entscheidend sei die konkrete Ausgestaltung eines solchen Ansatzes.

Im Gegensatz dazu betonte die Philosophin den Vorteil einer Jobgarantie. Diese biete ein soziales Auffangnetz und fördere Tätigkeiten wie Fürsorgearbeit und Aktivismus, die zur individuellen Ermächtigung beitragen würden.

Der Umgang mit Wissen in einer Demokratie

Herzog schreibt dem Wissen in einer Demokratie eine besondere Rolle zu. Obwohl wir moralisch alle gleich seien, gebe es reale Unterschiede in der Expertise. Es gebe einen gesellschaftlichen Konsens, dass Menschen, die sich beruflich mit einem Thema befassen, mehr Gewicht haben sollten als Laien mit Internetzugang.

Die Philosophin schlägt vor, verschiedene Formen des Wissens ausgewogen anzuerkennen, um demokratische Prozesse zu stärken und eine vielfältige und inklusive Gesellschaft zu fördern. Daher solle nicht nur akademisches Wissen respektiert werden, sondern auch praktisches Wissen und Erfahrungen, gerade im Umweltschutz.

In diesem Spannungsfeld beschrieb Herzog eine dritte Kraft: Im Kapitalismus gebe es Bestrebungen, die Erzeugung und Verbreitung von Wissen zu beeinflussen. Sie verwies auf das Beispiel der Tabakindustrie, die das Wissen über die schädlichen Auswirkungen des Tabakkonsums verschleiere und falsche Informationen verbreite. Die fossile Industrie nutze ähnliche Strategien. Mitschuld daran sei die wirkmächtige Idee des sogenannten Marktplatz der Ideen. Sie führe dazu, dass Wissensprozesse nicht genügend demokratiegerecht reguliert werden.

Pascal Zwicky erwähnte die öffentliche Finanzierung des Journalismus als Lösungsansatz. Wenn diese unabhängig vom Staat sei, könne sie sicherstellen, dass die Öffentlichkeit Zugang zu verlässlichen Informationen habe.

Wie Umgehen mit dem Informationschaos?

Ein weiteres Problem für demokratiegerechtes Wissen sieht Lisa Herzog in den sozialen Medien. Dort werde die Vielzahl von Informationen selten eingeordnet, was eine Überforderung für Nutzende verursache.

Herzog wünscht sich grundsätzlich andere Netzwerke, sieht diese Vorstellung jedoch als unrealistisch. Eine konkrete Lösung sei, Informationsquellen zu kennzeichnen. Zum Beispiel könnten Farbcodes anzeigen, woher eine Nachricht stamme und ob künstliche Intelligenz sie generiert habe.

Die Zivilgesellschaft in Gefahr

Herzog betonte, dass ein kognitiver Wandel von Individuen immer in soziale Strukturen eingebunden sei. Hier sah die Philosophin das Problem, dass Menschen seltener an Veranstaltungen teilnähmen und sich weniger in Vereinen und Organisationen engagieren würden.

Herzog machte fehlende Zeit für die sinkende soziale Einbettung verantwortlich. Eine Verkürzung der Arbeitszeit könne dazu beitragen, dass mehr Menschen in der Lage wären, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren und sich für den notwendigen sozial-ökologischen Wandel einzusetzen.

In diesem Zusammenhang wies Herzog auf Karl Marx und den sozialistischen Kampf für die Reduktion der Erwerbsarbeitszeit hin. Das sei auch heute wichtig und könne als verbindendes progressives Projekt vorangetrieben werden.

Literatur

  • Herzog, Lisa (2014). Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. München: Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München.
  • Herzog, Lisa (2019). Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus. München: C.H. Beck Verlag.

Über den:die Autor:in: Marlo Roth studiert Rechnergestützte Wissenschaften an der ETH Zürich und engagiert sich im Verein Plurale Ökonomik.

Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Anny-Klawa-Morf-Stiftung.

Der Sozialismus als Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart: Raul Zelik zu Freiheit, Eigentum und Solidarität

Artikel
Marlo Roth

Ein freies Leben, ohne ökologische und soziale Krisen. So lautete Raul Zeliks Vision eines zukunftsträchtigen Sozialismus in der zweiten Runde der Online-Reihe „Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert?“. Im Gespräch mit dem Schweizer SP-Nationalrat und Co-Präsident Cédric Wermuth bot der deutsche Politikwissenschaftler Raul Zelik spannende Einblicke in sein umfangreiches Werk. Die Veranstaltung organisierten das Denknetz und die Anny-Klawa-Morf-Stiftung.

Das Wichtigste in Kürze

  • • Raul Zeliks Sozialismus zielt darauf ab, die bestehenden Machtverhältnisse, die auf Eigentumsrechten beruhen, zu durchbrechen, um ein freies und demokratisches Leben zu ermöglichen.
  • •Planung sei allgegenwärtig, auch im Kapitalismus, und solle genutzt werden, um geopolitische Konkurrenz und ökologische Krisen zu bewältigen.
  • • Kapitalismus könne nicht ökologisch nachhaltig sein, weil er auf Wachstum basiere und keinen intrinsischen Wert auf natürliche Ressourcen lege.
  • • Eine Doppelstrategie aus Solidarität und Praktiken gegen die Angst seien notwendig, um den Sozialismus voranzutreiben und sich gegen autoritäre Entwicklungen zu wehren.
  • • Es gebe bereits viele Möglichkeiten, um schrittweise gemeinschaftliches Eigentum aufzubauen.

Die Untoten des Kapitals

In Raul Zeliks Buch, „Wir Untoten des Kapitals“, dient der Zombie als Metapher für das kapitalistische System. Die zentrale These: Der Kapitalismus schränke unsere Freiheit ein, indem er unsere Handlungen vorherbestimme.

Zeliks Auffassung von Freiheit ist dabei nicht nur individuell, sondern auch sozial. Laut dem Politologen hätten im heutigen System Milliardärserben mehr Freiheit, ihr Leben zu gestalten, als Menschen mit weniger Eigentum. Zudem würden Gewinne hauptsächlich zurück an Besitzende von Produktionsmitteln fliessen, was soziale Ungleichheiten verstärke.

In diesem Kontext biete der Sozialismus, so Zelik, einen einzigartigen Blickwinkel: Im Sozialismus gehe es nicht nur um Gerechtigkeit. Auch für die Abschaffung von Herrschaft gebe es andere Bewegungen, wie den Anarchismus und den Feminismus. Allein der Sozialismus stelle die Eigentumsrechte in den Mittelpunkt, um damit bestehende Machtverhältnisse zu erklären.

Sozialismus heute: Reflexion, Weiterentwicklung und Alternativen

Zelik hält am kontroversen Begriff Sozialismus fest, weil das private Eigentum nicht nur mitverantwortlich für viele Probleme in der Gesellschaft sei, sondern massgeblich deren Bewältigung verhindere. Hier versage die liberale Demokratie, die zwar Beteiligung verspreche, aber durch käufliche Parteien und Medien geschwächt werde.

Der Politologe beschrieb den Sozialismus daher als die bisher einzige Ideologie, die dieses Problem thematisiere und in der Vergangenheit tatsächlich bekämpfen konnte. Er wies jedoch darauf hin, dass der Sozialismus des 20. Jahrhunderts nicht mehr die passende Antwort sei.

Bezüglich der historischen Missstände unter dem Banner des Sozialismus betonte Zelik, dass alle Emanzipationsversuche ähnliche Probleme aufwiesen und man aus vergangenen Fehlern lernen müsse. Man könne zukünftigen autoritären Entwicklungen nur entgegenwirken, wenn man die (eigene) Geschichte kenne. Auch das ist für Zelik ein Argument dafür, am Sozialismusbegriff festzuhalten.

Alternativen Konzepten wie Commoning, Wirtschaftsdemokratie und Gemeinwohlökonomie steht Zelik ebenso positiv gegenüber. Diese Begriffe seien sinnvoll, um die Ideen, die hinter dem Sozialismus stehen, anschlussfähig zu machen, da sie diskursfähig(er) seien.

Die nicht so unsichtbare Hand

Des Weiteren wies Zelik darauf hin, dass die Angst der Rechten vor Sozialismus oft nicht von Eigentumsfragen stamme, sondern von der Planwirtschaft. Dabei sei Planung allgegenwärtig, gerade auch im Kapitalismus.

Das Buch „The People’s Republic of Walmart“ von Leigh Phillips und Michal Rozworski zeige auf, dass grosse Unternehmen sehr wohl Planungen durchführen würden. Wenn die Sowjetunion genauso viel und gut geplant hätte wie IKEA oder Amazon, so Zelik, wäre sie nicht untergegangen.

Zelik plädierte dafür, Planung einzufordern, um geopolitische Konkurrenz und ökologische Krisen zu mindern. Andernfalls führe der unregulierte Ressourcenrausch zu Faschismus und Krieg.

„Der Sozialismus kann ökologisch destruktiv sein; der Kapitalismus muss es sein.“

Raul Zelik betonte mit Verweis auf Nancy Fraser, dass der Sozialismus nicht automatisch umweltfreundlich sei; das zeige die Geschichte. Klar sei aber auch, dass der Kapitalismus strukturell bedingt die planetarischen Grenzen überschreite und daher von Grund auf nicht nachhaltig sein könne.

Zelik kritisierte zudem das Argument, dass es möglich sei, Wachstum und Kreislaufwirtschaft zu verbinden: Jede Form von Wertschöpfung bringe automatisch eine Ausbeutung der Natur mit sich. Effizienzsteigerungen würden im sogenannten Rebound-Effekt mit erhöhtem Konsum ausgeglichen und Recyclingquoten seien zu tief, um wahrlich zirkuläre Stoffkreisläufe zu schaffen.

Auch die Digitalisierung, die auf den ersten Blick ressourcenarm scheinen möge, habe erhebliche Konsequenzen auf die reale Welt. Als Beispiele nannte Zelik den hohen Energie- und Platzverbrauch von Serverfarmen sowie den gefährlichen Rohstoffabbau in Lateinamerika.

Der Politikwissenschaftler bezeichnete die fortlaufende Ausbeutung neuer Ressourcen, auch genannt Akkumulation, als grundlegendes Erscheinungsbild des Kapitalismus. Um zu versichern, dass das Kapital stetig wachse, müssten neben der regulären Produktion neue Bereiche in Besitz genommen werden ( „Landnahme“).

So erhalte die Erschliessung des Regenwaldes erst als Sojaplantage einen ökonomischen Wert. Zerstörung von Biodiversität und fruchtbarem Land würde dabei mit Wachstum gleichgesetzt.

Multiple Krisen: Chance oder Hürde?

Raul Zelik beschrieb die ökologische Krise als eine Krise der unteren Klassen. Er machte deutlich, dass die Auswirkungen von Umweltzerstörung vor allem benachteiligte Gruppen träfen. CO2-Abgaben und Marktregeln würden das Problem nicht lösen, denn Steuern seien den Superreichen gleichgültig. Verbote würden jedoch für alle gelten.

Auf die Frage, ob die multiplen Krisen die Akzeptanz von Sozialismus erhöhen könnten, warnte Zelik, dass eine Knappheit von Ressourcen gefährlich sei, da die damit verbundene Konkurrenz oft zu faschistoidem Denken führe. In solchen Situationen würden viele sich auf nationales Denken und die eigene Gruppe konzentrieren.

Um dagegen vorzugehen plädierte Zelik für eine Doppelstrategie aus Solidarität und Praktiken gegen die Angst. Der Politologe verwies auf das Beispiel der erfolgreichen Bewegung „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ in Berlin, die sich für die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen und für eine soziale Mietenpolitik einsetzt.

Einfach sei dies nicht, erklärte Zelik, denn der Neoliberalismus habe einen Individualismus heraufbeschworen, der die Solidarität beeinträchtige.

Der Politologe sprach sich für organisierte Gegenmächte in möglichst vielen Bereichen aus, sowohl auf der kleinen, basisdemokratischen Ebene als auch auf der politischen Ebene und im kulturellen Bereich.

 Ein Ökosystem von Gemeineigentumsformen

Zelik betonte, dass es keine plötzliche Revolution oder Machtergreifung geben könne, sondern dass Veränderungen schrittweise erfolgen müssten. Deshalb sei es wichtig, jetzt zu handeln und Veränderungen anzustossen.

Als zentrale Strategie des Sozialismus bezeichnete Zelik die Dekommodifizierung. Ihr Ziel sei es, Bereiche vor der reinen Wertschöpfung zu schützen und das Eigentum zu demokratisieren. Hier nannte er folgende Beispiele für bereits existierende soziale Praktiken:

  1. Die Natur schützen, ohne ihr einen Wert zuzuschreiben.
  2. Gemeinschaftliche Formen von Landbesitz (die Allmende) wiederbeleben und fortführen .
  3. Genossenschaftliche Strukturen etablieren in Betrieben, Wohnungsbau, Universitäten und Medien.
  4. Institutionen schaffen, die unabhängig vom Staat und demokratisch organisiert sind.

Weitere Beschreibungen solcher Ideen fänden sich in Cédric Wermuths und Beat Ringgers Buch „Die Service-public-Revolution“.

Zelik sieht das Problem damit jedoch noch nicht gelöst, da gemeinschaftlich organisierte Betriebe weiterhin mit Konkurrenz zu kämpfen hätten. Unternehmen, die im gegenwärtigen System dem Gemeinwohl dienen würden, würden nicht überleben.

Und zum Schluss…

Raul Zelik schliesst mit dem Appell, die WOZ zu lesen, eine Schweizer Wochenzeitung, die sich kritisch mit politischen Themen auseinandersetzt.

Literatur

Phillips, Leigh, Rozworski, Michal (2019). The People’s Republic of Walmart. How the World’s Biggest Corporations are Laying the Foundation for Socialism. New York: Verso Books.

Ringger, Beat, Wermuth Cédric (2020). Die Service-public-Revolution. Corona, Klima, Kapitalismus – eine Antwort auf die Krisen unserer Zeit. Zürich: Rotpunktverlag.

Zelik, Raul (2020). Wir Untoten des Kapitals. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Über den:die Autor:in: Marlo Roth studiert Rechnergestützte Wissenschaften an der ETH Zürich und engagiert sich im Verein Plurale Ökonomik.

Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Anny-Klawa-Morf-Stiftung.