Monat: März 2024

Den Wandel demokratisch gestalten

Artikel
Yihang Xiong

Der Klimawandel stellt zweifellos eine der grössten Herausforderungen der modernen Zeit dar. Angesichts dessen lautet die zentrale Frage: Ist es möglich, die erforderlichen Massnahmen zur Bewältigung der Klimakrise auf demokratische Weise umzusetzen? Um dieser Frage nachzugehen, veranstalten der Thinktank „Denknetz“ gemeinsam mit der Anny-Klawa-Morf-Stiftung, eine dreiteilige Online-Reihe. In der Auftaktsitzung diskutierten der Politikwissenschaftler und Philosoph Felix Heidenreich von der Universität Stuttgart und Pascal Zwicky vom Denknetz über das Verhältnis von Demokratie und Zukunft.

Mangel an einer klaren Zukunftsvision

Heidenreich begann seine Ausführungen mit einem Beispiel von Masha Gessen: In ihrem Buch „The Future is History“ beschreibt diese die  These, dass in autoritären Regimen, die es selber nicht schaffen, eine plausible und attraktive Zukunftsvision zu entwickeln, oft die verklärte Vergangenheit als neue Zielgrösse der Zukunft imaginiert wird. Diese wird genutzt, um die  Bevölkerung von aktuellen Missständen abzulenken. Als Beispiele nannte er das Russland Putins oder die Türkei Erdogans.

Demgegenüber scheint die Entwicklung einer gemeinsamen Zukunftsvision in Demokratien oft zu fehlen. Dazu ist in Demokratien aufgrund der zahlreichen Krisen laut Heidenreich die Zuversicht auf eine bessere Zukunft teilweise verloren gegangen. Derzeit scheint jeder Tag schlimmer zu werden als der vorherige, und der Pessimismus wächst. Dieser Mangel an Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat laut Heidenreich viele Gründe.

Hier war es Heidenreich wichtig, den Begriff Zukunft zu klären. Neben der Bedeutung dessen, was tatsächlich eintreten wird, wie etwa Prognosen zum Klimawandel, bezeichnet Zukunft hier für ihn auch die Vorstellungen und Erwartungen darüber, was passieren könnte, also Zukunftsbilder und Zukunftsvorstellungen der Gesellschaft, wie sie sich etwa in der Populärkultur in Filmen niederschlägt, in der mögliche Zukünfte imaginiert werden.

Neben offensichtlichen Gründen wie der zunehmenden Klimakrise tragen für ihn auch demographische Probleme nicht dazu bei, eine bessere Zukunft zu gestalten. Dabei beruft er sich auf die Analysen des bulgarischen Politologen Ivan Krastev zu Emigration im postkommunistischen Europa. In Ländern, in denen in den letzten Jahren ein grösserer Teil der Bevölkerung emigriert ist, beispielsweise Polen, Rumänien und Bulgarien, verstärkt dies die pessimistische Stimmung für diejenigen, die zurückbleiben müssen. Sie hätten laut Heidenreich einen zuversichtlichen Ausblick in Zukunft verloren, da mit jeder jungen Person, die das Land verlassen würde, auch ein Stück Zukunft aus dem Land verschwinden würde. Er nutzt dieses Beispiel, um ein Grundgefühl zu beschreiben, im dem sich eine grosser Teil der Bevölkerung die Vergangenheit als Zukunft zurücksehnt. Zuversicht in die Zukunft, so sein grösserer Punkt zum Thema, würde in europäischen Demokratien teils zur Mangelware.

Auch Infrastrukturprojekte spiegeln dieses Problem wider. Sie würden eigentlich das Potential bergen, in politischen Gemeinschaften kollektive Zuversicht zu produzieren. Projekte wie der Berliner Flughafen und die Elbphilharmonie in Hamburg zeigen die Schwierigkeiten beim Aufbau einer zukunftsfähigen Infrastruktur. Das sind für ihn Beispiele wo man sagen könnte, die Gesellschaft führt sich selbst anhand von kollektiver Architektur vor Augen, dass sie Probleme im Bauen der Zukunft hat. Das ist ein Versuch diese Krise der Demokratie nochmals anders zu verstehen und auch nochmals einen anderen Blick auf das Phänomen Populismus und Autoritarismus zu werfen, etwa in dem sich der Populismus in den USA mit «Make America Great Again» klar auf die Vergangenheit beruft. Damit, so Heidenreich, würde das Bedürfnis gezeigt, die Zuversicht in die Zukunft, die in vergangenen Dekaden vorgeherrscht hätte, zurückzubekommen. Für die Demokratie wäre es dann wichtig,das bessere Gegenangebot zu unterbreiten mit einer Zukunftsvision, die nicht rückwärtsgewandt, sondern progressiv wäre.

Die Ziellosigkeit ist gefährlich für das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie. In einer Demokratie ist es von entscheidender Bedeutung, klare Ziele zu setzen. In Deutschland beispielsweise ist es zwar klar, dass der Verkehr irgendwie fliessen sollte, jedoch fehlen klare Ziele oder Pläne für die Zukunft. Die

Der Mangel an einer Vorstellung einer besseren Zukunft wirkt sich negativ aus, indem er das Gefühl der Machtlosigkeit in der Bevölkerung verstärkt und den Glauben daran schwächt, dass wir als Gesellschaft in der Lage sind, grosse Probleme zu lösen, wie etwa die Klimakrise.

Privatisierung der Zukunft

Einen weiteren Trend sieht Heidenreich in dem, was er „Privatisierung der Zukunft“ nennt . Widerspiegelt sieht er das etwa in den Bunkern von amerikanischen Milliardären, die als Absicherung für den Fall von Katastrophen dienen, aber nur für einzelne, nicht für die Gemeinschaft. So gäbe es eine Ungleichverteilung in der Zuversicht in die Zukunft: Die Zukunftserwartungen wären ungleich verteilt. Während Reiche sich eine positive Zukunft leisten und sich deswegen auch eher eine zuversichtliche Haltung zur Zukunft entwickeln könnten, könnten weniger Vermögende nichts oder nur sehr wenig von der Zukunft erwarten. Dabei hat gerade die Corona-Pandemie verdeutlicht, dass grosse Probleme, die viele Menschen betreffen, wie die öffentliche Gesundheit, keine privaten Angelegenheiten sind, sondern gemeinsam angegangen werden müssen.

Aktuell scheint für Heidenreich aber die gemeinsame Zukunft vernachlässigt zu werden, während die individuelle Zukunft stärker betont wird – auch das ein Erbe des Neoliberalismus Trends wie Selbstoptimierung durch Fitnesspläne oder private finanzielle Planung fokussieren sich mit extrem viel Aufwand und Planung auf die individuelle Zukunft, aber haben wenig mit der Gemeinschaft zu tun. Diese individuellen Zukunftspläne erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Für Heidenreich ist das eine Art Kompensationsverhältnis: Gerade wenn Personen sich zunehmend machtlos gegenüber der kollektiven Zukunft fühlen und auch gar keine Vorstellungen diesbezüglich mehr entwickeln, wird umso mehr Wert auf Erfahrungen und Zukunftspläne gelegt, wo Selbstwirksamkeit noch spürbar ist, wie eben beispielsweise Bodybuildung.

Die heutige Gesellschaft betrachtet Heidenreich als „Verbraucher-Demokratie“, in der Einzelne durch ihr Konsumverhalten abstimmen. Die Reichen, die über mehr Kapital und Vermögen verfügen, haben einen grösseren Einfluss auf demokratische Prozesse, was das Vertrauen in die Demokratie aufgrund mangelnder Transparenz beeinträchtigt.

Wie kann die aktuelle Demokratie verändert werden, um das Klimaproblem zu bekämpfen?

Um die Hoffnungslosigkeit bezüglich der Zukunft zu überwinden, ist es entscheidend, einen klaren Zukunftsplan zu entwickeln. Das Konzept des „Futuring“, das aus der Stadtplanung in den Niederlanden stammt, bietet einen vielversprechenden Ansatz. Dabei kommen Bürgerinnen und Bürger zusammen, um gemeinsam eine Zukunftsvision für ihren Stadtteil zu entwickeln und konkrete Massnahmen zu erarbeiten. Solche Projekte stärken das Gefühl der Beteiligung an der Politik und fördern eine klare Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft.

Es gibt zahlreiche Lösungen für das Problem des mangelnden bürgerschaftlichen Engagements in der Politik. Zwangsmethoden wie die Wahlpflicht sind für Heidenreich eine mögliche Lösung, um die Beteiligung der Bevölkerung an der Politik zu erhöhen. Allerdings muss dabei eine Balance zwischen individueller Freiheit und Bürgerpflicht gefunden werden. Subtilere Methoden wie Bildungsmassnahmen oder öffentliche Diskussionen können ebenfalls dazu beitragen, die politische Kultur zu stärken und die politische Teilnahme der Bevölkerung zu erhöhen.

Demokratien leiden oft darunter, dass der Fokus auf dem Gewinn der nächsten Wahl liegt, anstatt langfristige Politik zu betreiben. Um dieses Problem anzugehen, muss die langfristige Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz in die gesetzliche Regierungsstruktur integriert werden. Dies könnte beispielsweise durch die Verankerung des Klimaschutzes in der Verfassung oder die Schaffung von Bürger:innen- oder Expert:innenräten geschehen, die langfristige und nachhaltige Politikziele formulieren und umsetzen. Solche Massnahmen würden für Heidenreich nicht nur die politischen Prozesse transparenter machen, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie stärken.

Schluss

Die aktuelle Aussicht auf die Zukunft mag düster erscheinen, doch wir verfügen über zahlreiche potenzielle Lösungsansätze, so Heidenreich. Frustrierend ist für ihn, dass trotz dieser Vielfalt an innovativen Lösungen zunächst eigentlich aus der Zeit gefallene Probleme wie der Krieg in der Ukraine  angegangen werden müssen, bevor wir gemeinsam das dringende Klimaproblem lösen können. Es liegt an uns, so schloss Heidenreich die Veranstaltung, diese Hindernisse zu überwinden und uns darauf zu konzentrieren, die drängenden Herausforderungen anzugehen, um eine nachhaltige und lebenswerte Zukunft für kommende Generationen zu schaffen.

Über den Autor Yihang Xiong besucht gegenwärtig die Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen.

Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Anny-Klawa-Morf-Stiftung.

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Fakten zum Buch: Erste Auflage: 1991 im Limmat Verlag
Neue Auflage: 191 Seiten, ca. 50 Fotografien