Die Schweiz und Europa

Artikel Gegenwart verstehen
Andreas Gross

Fünf Thesen zu einer schwierigen Beziehungskiste. Denn die Geschichte erlaubt uns, das Loch in der politischen Landkarte Europas zu verstehen.

  1. Zwischen 1830 und 1870 war die Schweiz die demokratischste und europäischste Gesellschaft Europas; in keiner anderen Region waren so viele Ideen und Errungenschaften der Französischen Revolution umgesetzt worden. Die bürgerliche Revolution von 1848 war nur in der Schweiz gelungen. Auch dank vielen Demokratinnen und Demokraten in Paris, Berlin, Prag, Budapest oder Wien. Denn hätten diese nicht auch den Aufstand geprobt, hätten die reaktionären Empires Europas genug militärische Valenzen gehabt, um in der Schweiz die Liberalradikalen zu stoppen und dem Sonderbund zum Durchbruch zu verhelfen. Dieser «europäischen Schützenhilfe» waren sich die schweizerischen Revolutionäre durchaus bewusst. So flohen dann auch viele der verfolgten «Verlierer» aus Mitteleuropa in die Schweiz, erhielten hier Asyl und wenn gewünscht sogar das Bürgerrecht. Die Radikalen unter den «Freisinnigen» wollten denn auch Europas bisher einzigen «Bundesstaat» als ersten Schritt hin zur «Europäischen Republik» verstanden haben. Von einer neuen «Insel der Seligen» war keine Rede. Im Gegenteil: Die Fortschrittlichsten gründeten und lasen die «Vereinigten Staaten von Europa».

  2. Die Wende begann mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Nicht Neues zwar für die europäische Geschichte. Doch es war der erste Krieg zwischen den beiden wichtigsten kulturellen Referenzen der Schweiz seit der Gründung des schweizerischen Bundesstaats. Aus dem 1815 in Wien von den europäischen Imperien der Schweiz angeordneten «imperialen Neutralitäts-Verständnis» (Die Schweiz diente allen als «Pufferstaat» gegenüber den Anderen) wurde eine innenpolitische Überlebensstrategie. Man begann sich kleiner zu machen als man war. Die nationale Besinnung löste die europäische Perspektive ab. Das mit dem «Völkerfrühling» verbundene 1848 wurde durch die Retro- Kunstfigur «1291» ersetzt. Dies alles in der Angst, dass ein eindeutiger Stellungsbezug zwischen Frankreich und Deutschland die multikulturelle Schweiz wieder auseinanderdividiert hätte. Das heisst nicht, dass die alte transnationale Utopie von 1848 («Der europäische und planetarische Völkerbund» als Vektor des Bundes-staats) sofort gänzlich verschwand; sie wurde bloss immer schwächer. Zum vorletzten Mal schien sie von offizieller Seite auf, als der Bundesrat sich in den 1880er und 1890er Jahren schwer bemühte die neuen Internationalen Organisationen wie die Post-Union oder die Eisenbahn-Union in der Schweiz anzusiedeln. Vielleicht zum letzten Mal schien sie auf, als der Bundesrat sich nach dem 1.Weltkrieg sehr für die Mitgliedschaft der Schweiz im «Völker-bund» engagierte und ihren Sitz auch nach Genf holte.

  3. 1945 war von solchen globalen Bemühungen des Bundesrates gegenüber der UNO und den Vorbereitungen zur europäischen Integration nichts mehr zu sehen. Die Schweiz hatte auch den dritten Krieg nach 1870 und 1914 «grausam klug» (Friedrich Dürrenmatt) überlebt. In dem sich die offizielle Schweiz auch den Nazis vielfach andiente und deren Geschäfte besorgte, also «kollaborierte», vermochte sie einen militärischen Angriff des Hitler-Regimes 1940 und 1941 zu verhindern. Doch auch nachdem ihr diese «Unmoralität» gelungen war, gestand sich die Schweiz diese nie ein. Im Gegenteil, sie versuchte nach der Schlacht, aus der realen Schwäche vor der Schlacht, eine Stärke zu machen. So konstruierte die Schweiz die nationale Suggestion, die Schweiz hätte «alleine auch die dritte Katastrophe Europas unversehrt überlebt». Und sie tat anschliessend alles, damit sich aus dieser vermeintlichen kollektiven Erfahrung eine Mentalität herausbildete, wonach «wir Schweizer alleine alles am besten schaffen» würden. Das damit durchaus verbundene schlechte Gewissen versuchte sie zu verdrängen.

    Das hatte für die Beziehung der Schweiz zum europäischen Integrationsprozess nach dem Krieg grosse Konsequenzen. Denn das Grundmotiv der europäischen Integration war die Erfahrung aller Nationen, alleine im Krieg alles verloren zu haben. Indem man sich zusammentat, wollte man zusammen verhindern, dass es je wieder dazu kommen konnte. Die Schweiz meinte nun aber, sie hätte alleine ja alles bestens überlebt und sah sich deshalb mehrheitlich und offiziell in keiner Weise veranlasst, an den Diskussionen und Vorbereitungen zur Gründung und Konzeption der Organisationen der europäischen Integration mitzuwirken.

  4. Im Europarat (1949), der Montanunion (1951) , der EWG (1957) und deren Nachfolger hatten sich aber auch Staaten zusammengefunden, die zu ihren eigenen vergangenen wie gegenwärtigen Schwächen standen und diese durch den Zusammenschluss («Poolen der Souveränität zu einer stärkeren, gemeinsamen Souveränität») überwinden wollten. Doch die Schweiz fand nach 1945 nie die Kraft, sich ihre eigenen Schwächen einzugestehen. Entsprechend war sie auch nie fähig, dass mehr oder weniger verdrängte schlechte Gewissen zu überwinden. So wurde der europäische Integrationsprozess zu einer ständigen Erinnerung an dieses schlechte Gewissen. Entsprechend ging die Schweiz diesem Integrationsprozess aus dem Weg. Jahrzehntelang scheute sie sogar jegliche Diskussionen zu diesem Integrationsprozess; denn immer erinnerte sie dieser an Verdrängtes, an Unbewältigtem, ans schlechte Gewissen. Europa wurde zum Tabu und entsprechend fremd.

  5. Diese Tabuisierung brach erst 1989 auf mit der grossen Zeitenwende. Die Spaltung Europas fand ein Ende, die Europäische Union zum grössten Wirtschaftsmarkt der Welt. Die ausserordentlich exportorientierte schweizerische Wirtschaft konnte sich die Ignorierung dieses Marktes nicht länger leisten. Zum Abbau von entsprechenden pekuniären Nachteilen war eine Annäherung, ja eine Mitwirkung in diesem Markt geboten. Dieses wirtschaftliche Interesse eröffnete 1990 die seither nie mehr erlahmten Diskussionen mit Brüssel um die Form und Ausgestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union. Von der Einsicht in die angesichts der Globalisierung Notwendigkeit auch einer politischen Integration war mehrheitlich noch nie die Rede in der Schweiz. Dazu brauchten wir eine lange, offene und sehr kontroverse Debatte – auch über unsere jüngste Vergangenheit und die damit verbundenen Erfahrungen der Schwäche und Unmoralitäten. Bisher haben wir diesen Teufelskreis noch nicht ganz aufzubrechen vermocht. Doch es ist dazu nie zu spät. Immer wieder vermögen Menschen zu korrigieren, was andere Menschen zuvor falsch eingefädelt haben.

Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Anny-Klawa-Morf-Stiftung.

Über den Autor: Andreas Gross (St. Ursanne) ist Politikwissenschaftler und Historiker, Lehrbeauftragter für direkte Demokratie und zur Philosophie der Utopie und war von 1991 bis 2015 National- und Europarat.