Die Staatsform Demokratie gilt als gerecht – weil sie anstrebt, viele Menschen einzubinden. Allerdings ist sie umkämpft – in einer repräsentativen Demokratie werden nicht die Anliegen aller berücksichtigt. Gerade marginalisierte Gruppen werden in demokratischen Entscheiden weniger berücksichtig – so hatten etwa Frauen in der Schweizer Demokratie lange Zeit keinen Platz. Unter dieser Prämisse diskutierten in der dritten und letzten Sitzung der Online-Reihe „Den Wandel demokratisch gestalten“ die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey (Kunsthochschule für Medien Köln) mit Mia Jenni, Sekretärin der SP Queer und Aargauer Grossrätin eine Kritik der liberalen Demokratie aus einer queer-feministischen Perspektive.
Herausforderungen und Kritik der kapitalistischen Demokratie
Auf ihrem Buch «Demokratie im Präsens» resp. den Ideen von Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau und Jacques Derrida aufbauend, hat Isabell Lorey zum Start der Sitzung mehrere Probleme aufgezeigt, die die Effektivität von Demokratien bei der Repräsentation ihrer Bürgerinnen und Bürger einschränken. Ein Hauptgrund, warum moderne liberale Demokratien den Willen der Bevölkerung nicht genau abbilden, liegt laut ihr darin, dass sie vorrangig ethnisch weisse Männer repräsentieren. Dies führt dazu, dass andere Gesellschaftsmitglieder, wie Frauen und ethnische Nicht-Europäer, nicht adäquat vertreten werden.
Als weitere Herausforderung für liberale Demokratien führte sie die Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Demokratie selbst an. Abgesehen von der Kritik an den Folgen des Neoliberalismus, der die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft hat, kritisierte Lorey, wie der Neoliberalismus unsere Zukunftsvision beeinflusst hat. Eine berechenbare Zukunft, in der alles besser würde, wenn die Gegenwart weiter optimiert würde, trägt laut Lorey dazu bei, dass die Gegenwart unter Kontrolle gehalten werden und legitimiert werden kann. Sie merkt an, dass eine solche neoliberale positive Zukunftsvision dazu führen kann, dass die gegenwärtig existierenden Probleme der Gesellschaft ignoriert werden und Regierungen in der Folge weniger unternehmen, um vorhandene soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu verringern.
Lorey hob weiter die Bedeutung hervor, die Demokratieforschung aus einer queer-feministischen Perspektive zu betrachten. Für sie sind die traditionellen Vorstellungen von Demokratie viel zu liberal, was viele Probleme unbeantwortet lässt, während der radikalere Zweig der Demokratieforschung ständig gleiche Ergebnisse liefert. Deshalb kommt sie zu dem Ansatz, Demokratie auf eine queer-feministische Weise neu zu denken, während sie intersektional ebenfalls antirassistische Ideen, die auch kapitalismuskritisch sind, einbezieht. In dieser Online-Sitzungen führte sie daraus folgernd zwei Punkte ins Feld aus ihrem Buch «Demokratie im Präsens».
Sie kritisiert an traditionellen Demokratiekonzeptionen die vorherrschende Sichtweise linearer und fortschrittsorientierter Geschichtsauffassung, denn sie würden die Kämpfe früherer Generationen, den heutigen Zustand zu erreichen, vereinfachen und die verschiedenen Möglichkeiten heutiger Kämpfe gegen das kapitalistische System ignorieren. Neben der Art und Weise, wie der Glaube an eine bessere Zukunft zur Ignoranz bestehender Probleme führen kann, könnte diese Förderung eines singulären, progressiven Entwicklungspfads auch die Position der Demokratie bedrohen, wenn sie mit Rückschlägen konfrontiert wird, etwa durch rechtspopulistische Bewegungen wie in Italien.
Das zweite von Lorey hinterfragte Konzept ist das Konzept der Schulden in der kapitalistischen Gesellschaft. Angelehnt an die Ideen von Philosophen wie Michel Foucault, beschreibt Lorey Schulden in einer kapitalistischen Gesellschaft als eine Form der Disziplinierung und finanziellen Verpflichtung, die die Entscheidungen und Lebensweise der Menschen beeinflusst und daher die Person enger an die bestehenden kapitalistischen Systeme bindet. Schulden verstärken bestehende soziale Hierarchien, und Lorey gab Beispiele dafür, wie die Notwendigkeit, Schulden zurückzuzahlen, auch von Geschlecht, Rasse und sozioökonomischem Status beeinflusst wird.
Ausblick
In vielen westlichen Demokratien zeichnet sich der Trend ab, nach drastischeren Massnahmen zu rufen, um die Klimakrise zu bekämpfen. Drastische Massnahmen können aber auch zu autoritären Tendenzen führen: Lorey zufolge sollten wir im Bestreben, den Klimawandel zu stoppen, die Demokratie auf jeden Fall weiter hochhalten.
Wie zuvor erwähnt, basieren viele bestehende Demokratien in liberal-kapitalistischen Ländern auf Ungleichheit, vereinfachten Konzepten, begrenzter Repräsentation der Bevölkerung und idealistischen Zukunftsvorstellungen, die die Tendenz aufweisen können, aktuelle Probleme zu ignorieren. Lorey fordert daher eine alternative Form der Demokratie, um diese Probleme anzugehen.
Die Demokratie sollte nicht ein homogenes Individuum repräsentieren, sondern eine Vielfalt, die alle in einer Gesellschaft umfasst, einschliesslich derer, die in der Gesellschaft marginalisiert sind.. Kurz gesagt fordert Lorey ein demokratisches System, das auf Prinzipien der Fürsorge und Interdependenz statt auf Individualismus und Ausbeutung basiert. Praktische Beispiele hierfür sind für sie Bewegungen wie Occupy Wall Street, der Arabische Frühling oder die spanische 15-M-Bewegung.
Über den Autor Yihang Xiong besucht gegenwärtig die Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen.
Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Anny-Klawa-Morf-Stiftung.