Der Sozialismus als Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart: Raul Zelik zu Freiheit, Eigentum und Solidarität

Artikel
Marlo Roth

Ein freies Leben, ohne ökologische und soziale Krisen. So lautete Raul Zeliks Vision eines zukunftsträchtigen Sozialismus in der zweiten Runde der Online-Reihe „Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert?“. Im Gespräch mit dem Schweizer SP-Nationalrat und Co-Präsident Cédric Wermuth bot der deutsche Politikwissenschaftler Raul Zelik spannende Einblicke in sein umfangreiches Werk. Die Veranstaltung organisierten das Denknetz und die Anny-Klawa-Morf-Stiftung.

Das Wichtigste in Kürze

  • • Raul Zeliks Sozialismus zielt darauf ab, die bestehenden Machtverhältnisse, die auf Eigentumsrechten beruhen, zu durchbrechen, um ein freies und demokratisches Leben zu ermöglichen.
  • •Planung sei allgegenwärtig, auch im Kapitalismus, und solle genutzt werden, um geopolitische Konkurrenz und ökologische Krisen zu bewältigen.
  • • Kapitalismus könne nicht ökologisch nachhaltig sein, weil er auf Wachstum basiere und keinen intrinsischen Wert auf natürliche Ressourcen lege.
  • • Eine Doppelstrategie aus Solidarität und Praktiken gegen die Angst seien notwendig, um den Sozialismus voranzutreiben und sich gegen autoritäre Entwicklungen zu wehren.
  • • Es gebe bereits viele Möglichkeiten, um schrittweise gemeinschaftliches Eigentum aufzubauen.

Die Untoten des Kapitals

In Raul Zeliks Buch, „Wir Untoten des Kapitals“, dient der Zombie als Metapher für das kapitalistische System. Die zentrale These: Der Kapitalismus schränke unsere Freiheit ein, indem er unsere Handlungen vorherbestimme.

Zeliks Auffassung von Freiheit ist dabei nicht nur individuell, sondern auch sozial. Laut dem Politologen hätten im heutigen System Milliardärserben mehr Freiheit, ihr Leben zu gestalten, als Menschen mit weniger Eigentum. Zudem würden Gewinne hauptsächlich zurück an Besitzende von Produktionsmitteln fliessen, was soziale Ungleichheiten verstärke.

In diesem Kontext biete der Sozialismus, so Zelik, einen einzigartigen Blickwinkel: Im Sozialismus gehe es nicht nur um Gerechtigkeit. Auch für die Abschaffung von Herrschaft gebe es andere Bewegungen, wie den Anarchismus und den Feminismus. Allein der Sozialismus stelle die Eigentumsrechte in den Mittelpunkt, um damit bestehende Machtverhältnisse zu erklären.

Sozialismus heute: Reflexion, Weiterentwicklung und Alternativen

Zelik hält am kontroversen Begriff Sozialismus fest, weil das private Eigentum nicht nur mitverantwortlich für viele Probleme in der Gesellschaft sei, sondern massgeblich deren Bewältigung verhindere. Hier versage die liberale Demokratie, die zwar Beteiligung verspreche, aber durch käufliche Parteien und Medien geschwächt werde.

Der Politologe beschrieb den Sozialismus daher als die bisher einzige Ideologie, die dieses Problem thematisiere und in der Vergangenheit tatsächlich bekämpfen konnte. Er wies jedoch darauf hin, dass der Sozialismus des 20. Jahrhunderts nicht mehr die passende Antwort sei.

Bezüglich der historischen Missstände unter dem Banner des Sozialismus betonte Zelik, dass alle Emanzipationsversuche ähnliche Probleme aufwiesen und man aus vergangenen Fehlern lernen müsse. Man könne zukünftigen autoritären Entwicklungen nur entgegenwirken, wenn man die (eigene) Geschichte kenne. Auch das ist für Zelik ein Argument dafür, am Sozialismusbegriff festzuhalten.

Alternativen Konzepten wie Commoning, Wirtschaftsdemokratie und Gemeinwohlökonomie steht Zelik ebenso positiv gegenüber. Diese Begriffe seien sinnvoll, um die Ideen, die hinter dem Sozialismus stehen, anschlussfähig zu machen, da sie diskursfähig(er) seien.

Die nicht so unsichtbare Hand

Des Weiteren wies Zelik darauf hin, dass die Angst der Rechten vor Sozialismus oft nicht von Eigentumsfragen stamme, sondern von der Planwirtschaft. Dabei sei Planung allgegenwärtig, gerade auch im Kapitalismus.

Das Buch „The People’s Republic of Walmart“ von Leigh Phillips und Michal Rozworski zeige auf, dass grosse Unternehmen sehr wohl Planungen durchführen würden. Wenn die Sowjetunion genauso viel und gut geplant hätte wie IKEA oder Amazon, so Zelik, wäre sie nicht untergegangen.

Zelik plädierte dafür, Planung einzufordern, um geopolitische Konkurrenz und ökologische Krisen zu mindern. Andernfalls führe der unregulierte Ressourcenrausch zu Faschismus und Krieg.

„Der Sozialismus kann ökologisch destruktiv sein; der Kapitalismus muss es sein.“

Raul Zelik betonte mit Verweis auf Nancy Fraser, dass der Sozialismus nicht automatisch umweltfreundlich sei; das zeige die Geschichte. Klar sei aber auch, dass der Kapitalismus strukturell bedingt die planetarischen Grenzen überschreite und daher von Grund auf nicht nachhaltig sein könne.

Zelik kritisierte zudem das Argument, dass es möglich sei, Wachstum und Kreislaufwirtschaft zu verbinden: Jede Form von Wertschöpfung bringe automatisch eine Ausbeutung der Natur mit sich. Effizienzsteigerungen würden im sogenannten Rebound-Effekt mit erhöhtem Konsum ausgeglichen und Recyclingquoten seien zu tief, um wahrlich zirkuläre Stoffkreisläufe zu schaffen.

Auch die Digitalisierung, die auf den ersten Blick ressourcenarm scheinen möge, habe erhebliche Konsequenzen auf die reale Welt. Als Beispiele nannte Zelik den hohen Energie- und Platzverbrauch von Serverfarmen sowie den gefährlichen Rohstoffabbau in Lateinamerika.

Der Politikwissenschaftler bezeichnete die fortlaufende Ausbeutung neuer Ressourcen, auch genannt Akkumulation, als grundlegendes Erscheinungsbild des Kapitalismus. Um zu versichern, dass das Kapital stetig wachse, müssten neben der regulären Produktion neue Bereiche in Besitz genommen werden ( „Landnahme“).

So erhalte die Erschliessung des Regenwaldes erst als Sojaplantage einen ökonomischen Wert. Zerstörung von Biodiversität und fruchtbarem Land würde dabei mit Wachstum gleichgesetzt.

Multiple Krisen: Chance oder Hürde?

Raul Zelik beschrieb die ökologische Krise als eine Krise der unteren Klassen. Er machte deutlich, dass die Auswirkungen von Umweltzerstörung vor allem benachteiligte Gruppen träfen. CO2-Abgaben und Marktregeln würden das Problem nicht lösen, denn Steuern seien den Superreichen gleichgültig. Verbote würden jedoch für alle gelten.

Auf die Frage, ob die multiplen Krisen die Akzeptanz von Sozialismus erhöhen könnten, warnte Zelik, dass eine Knappheit von Ressourcen gefährlich sei, da die damit verbundene Konkurrenz oft zu faschistoidem Denken führe. In solchen Situationen würden viele sich auf nationales Denken und die eigene Gruppe konzentrieren.

Um dagegen vorzugehen plädierte Zelik für eine Doppelstrategie aus Solidarität und Praktiken gegen die Angst. Der Politologe verwies auf das Beispiel der erfolgreichen Bewegung „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ in Berlin, die sich für die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen und für eine soziale Mietenpolitik einsetzt.

Einfach sei dies nicht, erklärte Zelik, denn der Neoliberalismus habe einen Individualismus heraufbeschworen, der die Solidarität beeinträchtige.

Der Politologe sprach sich für organisierte Gegenmächte in möglichst vielen Bereichen aus, sowohl auf der kleinen, basisdemokratischen Ebene als auch auf der politischen Ebene und im kulturellen Bereich.

 Ein Ökosystem von Gemeineigentumsformen

Zelik betonte, dass es keine plötzliche Revolution oder Machtergreifung geben könne, sondern dass Veränderungen schrittweise erfolgen müssten. Deshalb sei es wichtig, jetzt zu handeln und Veränderungen anzustossen.

Als zentrale Strategie des Sozialismus bezeichnete Zelik die Dekommodifizierung. Ihr Ziel sei es, Bereiche vor der reinen Wertschöpfung zu schützen und das Eigentum zu demokratisieren. Hier nannte er folgende Beispiele für bereits existierende soziale Praktiken:

  1. Die Natur schützen, ohne ihr einen Wert zuzuschreiben.
  2. Gemeinschaftliche Formen von Landbesitz (die Allmende) wiederbeleben und fortführen .
  3. Genossenschaftliche Strukturen etablieren in Betrieben, Wohnungsbau, Universitäten und Medien.
  4. Institutionen schaffen, die unabhängig vom Staat und demokratisch organisiert sind.

Weitere Beschreibungen solcher Ideen fänden sich in Cédric Wermuths und Beat Ringgers Buch „Die Service-public-Revolution“.

Zelik sieht das Problem damit jedoch noch nicht gelöst, da gemeinschaftlich organisierte Betriebe weiterhin mit Konkurrenz zu kämpfen hätten. Unternehmen, die im gegenwärtigen System dem Gemeinwohl dienen würden, würden nicht überleben.

Und zum Schluss…

Raul Zelik schliesst mit dem Appell, die WOZ zu lesen, eine Schweizer Wochenzeitung, die sich kritisch mit politischen Themen auseinandersetzt.

Literatur

Phillips, Leigh, Rozworski, Michal (2019). The People’s Republic of Walmart. How the World’s Biggest Corporations are Laying the Foundation for Socialism. New York: Verso Books.

Ringger, Beat, Wermuth Cédric (2020). Die Service-public-Revolution. Corona, Klima, Kapitalismus – eine Antwort auf die Krisen unserer Zeit. Zürich: Rotpunktverlag.

Zelik, Raul (2020). Wir Untoten des Kapitals. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Über den:die Autor:in: Marlo Roth studiert Rechnergestützte Wissenschaften an der ETH Zürich und engagiert sich im Verein Plurale Ökonomik.

Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Anny-Klawa-Morf-Stiftung.