Demokratie, Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Wandel: Impulse für die linke Bewegung

Artikel
Marlo Roth

In der dritten Veranstaltung der Online-Reihe „Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert?“ trafen die Deutsche Philosophin und Autorin Lisa Herzog und Pascal Zwicky vom Denknetz zusammen, um über die Möglichkeiten und Herausforderungen eines modernen Sozialismus zu diskutieren. In einem lebendigen Gespräch gewährte Lisa Herzog Einblicke in ihr vielfältiges Wirken und setzte spannende Impulse für die Gestaltung von Demokratie und Arbeit.

Das Wichtigste in Kürze

  • • Für Lisa Herzog ist die Demokratie der Grundpfeiler einer gerechten Gesellschaft.
  • • Die Initiative „Democratizing Work“ fordert die Demokratisierung, Dekommodifizierung und Dekarbonisierung der Arbeit.
  • • Neue Institutionen auf übergeordneter Ebene seien entscheidend, um die Wirtschaft zu demokratisieren und globale Probleme zu lösen.
  • • Ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine Jobgarantie könnten soziale Ungleichheiten bekämpfen.
  • • Die Anerkennung unterschiedlicher Formen des Wissens und die Regulierung von Wissensprozessen seien wichtig für die Demokratie.
  • • Eine Verkürzung der Arbeitszeit würde die Zivilgesellschaft stärken und könnte eine sozial-ökologische Gesellschaftstransformation voranbringen.

Lisa Herzog, sind Sie zur Sozialistin geworden?

Bezugnehmend auf Lisa Herzogs Buch Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemässen Liberalismus, startete Moderator Pascal Zwicky mit dieser Frage ins Gespräch. Herzog meinte, dass für sie die Demokratie an erster Stelle stehe, aus der sie die notwendigen Richtlinien für die Gestaltung der Gesellschaft ableite. Es gehe nicht darum, zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu wählen, sondern darum, Bausteine aus den verschiedenen Traditionen zu nutzen und diese im Rahmen der Demokratie zu betrachten.

Herzog wies darauf hin, dass der überladene Sozialismusbegriff der Bildung von Koalitionen sogar schaden könne. Der Begriff schrecke Menschen ab, die eigentlich inhaltlich übereinstimmen würden. Sie plädierte stattdessen für konkrete, mehrheitsfähige Konzepte, die den heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht würden.

Pascal Zwicky räumte ein, dass die Autoren Klaus Dörre und Raul Zelik den Sozialismusbegriff sehr wohl als hilfreich erachten, da er das Eigentum ins Zentrum stelle und Alternativen aufzeigen könne. Herzog entgegnete, dass Macht nicht nur auf Eigentum basiere und verschiedene Ursprünge habe.

Als Beispiel nannte Herzog sich selbst: Obwohl sie persönlich keine Kapitalistin sei, verfüge sie durch ihr Netzwerk und ihre Karriere trotzdem über Macht. Menschen wie sie könnten nicht durch die Verstaatlichung von Macht zur Verantwortung gezogen werden, sondern durch Feedbackstrukturen und Governance-Systeme.

Die Gesellschaft in der Krise

Herzog kritisierte den vorherrschenden Diskurs über multiple Krisen als lähmend. Generationen vor uns hätten ebenfalls schwierige Herausforderungen erlebt. Dennoch sei offensichtlich, dass der Neoliberalismus nicht funktioniere. Dies zeige sich anhand von Beispielen wie dem Klimawandel, der Armut und der Ausbeutung des globalen Südens. Gerade der Klimawandel habe aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit auch eine andere Qualität als frühere Krisen.

Herzog stellte fest, dass vielen Menschen bereits klar sei, dass es ein neues System brauche. Trotzdem habe sich das Konsumverhalten noch nicht weit genug verändert. Die Philosophin zeigte sich jedoch optimistisch: Die Transformations-Bewegung habe zwar weniger Geld als die Seite der Deregulierung, könne aber mehr Herzen gewinnen.

Arbeit neu denken

Lisa Herzog berichtete von ihrem Engagement in der internationalen Initiative „Democratizing Work“, die ein Manifest veröffentlicht hat (siehe in diesem Kontext auch Herzogs Buch Die Rettung der Arbeit). Das Manifest sei in einem Moment in der Pandemie entstanden, in dem die Bedeutung der „systemrelevanten Arbeit“ und insbesondere auch der Sorgearbeit in Familien und Pflegeeinrichtungen deutlich geworden sei. Das Manifest zielt auf einen Wandel der Arbeitswelt und umfasst  drei Forderungen: die Demokratisierung, Dekommodifizierung und Dekarbonisierung der Arbeit.

Im Rahmen der Demokratisierung fordert die Initiative eine stärkere Mitbestimmung in Firmen und mehr Rechte für Arbeitende. Unternehmen sollten keine feudalen Strukturen unter dem Vorwand der Effizienz aufrechterhalten dürfen.

Bei der Dekommodifizierung strebt die Bewegung an, dass der Lohn nicht länger vom Markt abhängig sei. Insbesondere die Care-Arbeit solle besser entlohnt werden.

Mit der Dekarbonisierung macht das Manifest auf Umweltprobleme und die planetaren Grenzen der Erde aufmerksam. Nachhaltige Arbeit sei grundsätzlich radikal, da das Wirtschaftssystem nicht allein darüber entscheiden dürfe, welche Arbeiten wichtig seien. Dies müsse durch demokratische Prozesse geschehen.

Mitbestimmung, lokal und global

Lisa Herzog betonte die Notwendigkeit, nicht nur einzelne Firmen zu demokratisieren, sondern auch neue Institutionen auf übergeordneter Ebene zu schaffen. Die traditionelle Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Kapital sei zu einseitig, da wichtige Interessengruppen, wie Arbeitslose und die Umwelt, keine Stimme bekämen.

Besonders im globalen Süden müsse die Mitbestimmung in der Arbeitswelt anders gestaltet werden, da dort etwa 70% der Arbeit informell sei. Eine alleinige Demokratisierung von Unternehmen sei in diesem Kontext wenig sinnvoll.

Darüber hinaus sei eine internationale Zusammenarbeit wichtig, insbesondere angesichts der globalen Natur von Wertschöpfungsketten und Umweltproblemen.

Die Vereinten Nationen sieht die Philosophin jedoch kritisch. Sie seien von mächtigen Staaten des globalen Nordens dominiert und würden dadurch im globalen Süden an Legitimität verlieren. Als Alternative schlug Herzog einen Völkerbund nach Immanuel Kant vor, der auf einer Gleichberechtigung der Nationen basiere.

Hürden für die Wirtschaftsdemokratie

In der Diskussion wurde die Sorge geäussert, dass die Pandemie die Demokratisierung der Arbeit erschwert habe. Herzog betonte, dass eine rein digitale Arbeit das Vertrauen unter Kolleg:innen beeinträchtigen könne.

Zusätzliche familiäre Verpflichtungen hätten auch dazu geführt, dass das Homeoffice oft auf dem Rücken von Frauen ausgetragen worden sei. Laut Studien hätten Wissenschaftlerinnen während den Lockdowns daher weniger publiziert.

Eine weitere Schwierigkeit für die Demokratisierung der Wirtschaft sieht Herzog im sogenannten Mittelstandsbias. Der Mittelstand habe oft mehr Flexibilität, Zeit und Kapital, um sich politisch zu engagieren. Dieses Problem könne man zum Beispiel mit einer vorläufigen Kammer im Parlament für die Arbeiter*innenschicht angehen.

Herzog betonte, dass gesellschaftliche Spaltungen eine Gefahr für die Demokratie darstellen würden. Zum Beispiel fühle sich der ländliche Raum in der Politik vernachlässigt, was zu Protestwahlen geführt habe. In Bildung zu investieren und Begegnungsorte zu schaffen, könne den Austausch zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft fördern.

Im Kampf gegen soziale Ungleichheiten: Ein Recht auf Geld?

Ein bedingungsloses Grundeinkommen könne, laut Herzog, in bestimmten Situationen sinnvoll sein. Es habe einen entstigmatisierenden Effekt, da es alle Menschen einschliesse.

Allerdings betonte Herzog auch, dass das bedingungslose Grundeinkommen allein nicht ausreiche, um soziale Ungleichheit zu verringern. Sie befürchte, dass ein solches System dystopische Szenarien hervorrufen könnte, in denen Menschen ihre soziale Einbindung und Arbeit verlieren würden. Die Finanzierung und Verantwortlichkeit der Umsetzung seien ebenfalls schwierige Fragen. Entscheidend sei die konkrete Ausgestaltung eines solchen Ansatzes.

Im Gegensatz dazu betonte die Philosophin den Vorteil einer Jobgarantie. Diese biete ein soziales Auffangnetz und fördere Tätigkeiten wie Fürsorgearbeit und Aktivismus, die zur individuellen Ermächtigung beitragen würden.

Der Umgang mit Wissen in einer Demokratie

Herzog schreibt dem Wissen in einer Demokratie eine besondere Rolle zu. Obwohl wir moralisch alle gleich seien, gebe es reale Unterschiede in der Expertise. Es gebe einen gesellschaftlichen Konsens, dass Menschen, die sich beruflich mit einem Thema befassen, mehr Gewicht haben sollten als Laien mit Internetzugang.

Die Philosophin schlägt vor, verschiedene Formen des Wissens ausgewogen anzuerkennen, um demokratische Prozesse zu stärken und eine vielfältige und inklusive Gesellschaft zu fördern. Daher solle nicht nur akademisches Wissen respektiert werden, sondern auch praktisches Wissen und Erfahrungen, gerade im Umweltschutz.

In diesem Spannungsfeld beschrieb Herzog eine dritte Kraft: Im Kapitalismus gebe es Bestrebungen, die Erzeugung und Verbreitung von Wissen zu beeinflussen. Sie verwies auf das Beispiel der Tabakindustrie, die das Wissen über die schädlichen Auswirkungen des Tabakkonsums verschleiere und falsche Informationen verbreite. Die fossile Industrie nutze ähnliche Strategien. Mitschuld daran sei die wirkmächtige Idee des sogenannten Marktplatz der Ideen. Sie führe dazu, dass Wissensprozesse nicht genügend demokratiegerecht reguliert werden.

Pascal Zwicky erwähnte die öffentliche Finanzierung des Journalismus als Lösungsansatz. Wenn diese unabhängig vom Staat sei, könne sie sicherstellen, dass die Öffentlichkeit Zugang zu verlässlichen Informationen habe.

Wie Umgehen mit dem Informationschaos?

Ein weiteres Problem für demokratiegerechtes Wissen sieht Lisa Herzog in den sozialen Medien. Dort werde die Vielzahl von Informationen selten eingeordnet, was eine Überforderung für Nutzende verursache.

Herzog wünscht sich grundsätzlich andere Netzwerke, sieht diese Vorstellung jedoch als unrealistisch. Eine konkrete Lösung sei, Informationsquellen zu kennzeichnen. Zum Beispiel könnten Farbcodes anzeigen, woher eine Nachricht stamme und ob künstliche Intelligenz sie generiert habe.

Die Zivilgesellschaft in Gefahr

Herzog betonte, dass ein kognitiver Wandel von Individuen immer in soziale Strukturen eingebunden sei. Hier sah die Philosophin das Problem, dass Menschen seltener an Veranstaltungen teilnähmen und sich weniger in Vereinen und Organisationen engagieren würden.

Herzog machte fehlende Zeit für die sinkende soziale Einbettung verantwortlich. Eine Verkürzung der Arbeitszeit könne dazu beitragen, dass mehr Menschen in der Lage wären, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren und sich für den notwendigen sozial-ökologischen Wandel einzusetzen.

In diesem Zusammenhang wies Herzog auf Karl Marx und den sozialistischen Kampf für die Reduktion der Erwerbsarbeitszeit hin. Das sei auch heute wichtig und könne als verbindendes progressives Projekt vorangetrieben werden.

Literatur

  • Herzog, Lisa (2014). Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. München: Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München.
  • Herzog, Lisa (2019). Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus. München: C.H. Beck Verlag.

Über den:die Autor:in: Marlo Roth studiert Rechnergestützte Wissenschaften an der ETH Zürich und engagiert sich im Verein Plurale Ökonomik.

Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Anny-Klawa-Morf-Stiftung.